Wo das Auge nicht mit isst

Die Blinde Kuh in Zürich feiert Jubiläum. Betriebsleiter Adrian Schaffner spricht über 20 bewegte Jahre und die Integration von Blinden und Sehbehinderten im Gastgewerbe.
Interview: Virginia Nolan – Fotos: z. V. g.
Veröffentlicht: 18.04.2019
Die Blinde Kuh war das erste Dunkelrestaurant und hat heute Nachahmer in aller Welt.

«Wir sind keine geschützte Werkstatt.»

1999 eröffnete die Blinde Kuh als erstes Dunkelrestaurant ihre Türen. Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung?
Adrian Schaffner: Die Resonanz war gewaltig. Wir hatten einen Riesenansturm und waren auf Monate hinaus ausgebucht. Die Blinde Kuh war die erste Institution ihrer Art, ich würde sagen, weltweit. Die Presse ging ein und aus, vom Schweizer über das australische Fernsehen bis zum Wallstreet Journal, in dem wir auf der Titelseite landeten. Das Ganze war wie ein Sechser im Lotto – und weit entfernt von dem, was die vier Gründer ursprünglich vorgehabt hatten.

Inwiefern?
Angefangen hatte alles mit dem «Dialog im Dunkeln», einer Ausstellung, die damals im Zürcher Museum für Gestaltung gastierte. Zum Konzept gehörte eine Bar im Dunkeln, wo Blinde und Sehbehinderte arbeiteten. Dort lernten sich die vier Gründungsmitglieder der Blinden Kuh kennen und hatten später die Idee, in Zürich ein ähnliches Projekt auf die Beine zu stellen. Ihnen schwebte eine Bar mit Kulturprogramm vor. Die Nachfrage war da, aber vor allem zum Essen. So hat sich aus der ursprünglichen Idee ein Restaurant entwickelt. Heute sind wir schweizweit einer der grössten Arbeitgeber für blinde und sehbehinderte Menschen – und wohlgemerkt keine geschützte Werkstatt. Wir stehen auf eigenen Beinen und zahlen Marktlöhne. Und wir sind mehrfach kopiert worden: Mittlerweile gibt es Dunkelrestaurants in Paris, London, New York, Berlin, Bangkok oder Hamburg. In den meisten arbeiten ebenfalls Blinde und Sehbehinderte.

Seit dem fulminanten Start sind 20 Jahre vergangen. Wie zufrieden sind Sie mit der Entwicklung?
Fast zehn Jahre lang waren wir jeden Abend ausgebucht. Diesen Ruf haben wir behalten, viele Gäste haben noch immer das Gefühl, sie müssten Wochen im Voraus reservieren. Das ist nicht mehr nötig. Mittlerweile sind wir, um es so zu sagen, im Alltag angekommen, wir müssen uns Mühe geben wie jeder andere Gastgeber auch. Aber wir sind zufrieden.

«Wir funktionieren weitestgehend wie ein normaler Betrieb, mit ein paar Besonderheiten, was Prozesse betrifft», sagt Adrian Schaffner, Betriebsleiter der Blinden Kuh in Zürich.
Das Team: Die Blinde Kuh gehört zu den grössten Arbeitgebern für blinde und sehbehinderte Menschen in der Schweiz – und ist keine geschützte Werkstatt.

Was macht ein Besuch in der Blinden Kuh so besonders?
Ich glaube, wir bieten im wahrsten Sinne Erlebnisgastronomie. Aber nicht auf der Halligalli-Schiene – was auch seine Berechtigung hat – sondern in dem Sinne, dass der Gast eine berührende Erfahrung macht. Auf der Ebene seiner Sinne, die er ganz anders wahrnimmt, wenn das Sehen wegfällt, aber auch im Austausch mit unseren Mitarbeitern. Spannend ist der Rollentausch, der stattfindet: Im Alltag sind Blinde und Sehbehinderte eher auf die Hilfe von Sehenden angewiesen, hier bei uns ist es umgekehrt. Die Welt wortwörtlich mit anderen Augen zu sehen, in diesem Fall eben: nichts zu sehen, ist eine beeindruckende Erfahrung. Eigentlich ist es ja keine grosse Sache: Man geht in ein Restaurant, isst etwas Gutes – und trotzdem sind die meisten Gäste berührt, wenn sie hier rausgehen.

Kocht man im Dunkelrestaurant anders?
Eine Standardfrage lautet ja, ob unsere Köche blind sind – sind sie nicht. Aber sie achten darauf, den Gast nicht zu überfordern. Das beginnt mit der Zusammenstellung eines Gerichts, die nicht allzu komplex sein darf, damit der Gast Erfolgserlebnisse hat, wenn es darum geht, die Komponenten herauszuschmecken. Ohne das Auge ist das gar nicht so einfach. Oder ein gutes Stück Fleisch, ein Entrecôte, zum Beispiel, das reichen wir aufgeschnitten, weil der Gast im Dunkeln Mühe hat mit so einem Klumpen. Fische mit Gräten servieren wir auch nicht. Sonst wird bei uns ganz normal gekocht. Speziell sind mehr die Prozesse: Zum Beispiel haben wir verschiedene Teller für vegetarische und Fleischgerichte, die Mitarbeiter erkennen sie aufgrund der Haptik, gewisse Sachen sind in Braille-Schrift angeschrieben. Wichtig ist für einen Betrieb wie unseren, dass alles seinen festen Platz hat, sei es in der Getränkeschublade oder im Restaurant. Wir verstellen auch keine Stühle oder Tische, damit die Orientierung erhalten bleibt.

Die Blinde Kuh ist auch eine Pionierin darin, die Gastronomie als Plattform für die Integration zu nutzen. Wie arbeiten Sehende und Blinde zusammen?
Alle mussten voneinander lernen, sich aufeinander einstellen. Grundsätzlich funktionieren wir weitestgehend wie ein normaler Betrieb, wie gesagt mit ein paar Besonderheiten, was Prozesse betrifft. Wir beschäftigen 15 sehbehinderte und blinde Menschen, viele davon seit Jahren. Diese Leute sind absolut selbständig und stehen mitten im Leben, sie machen ihren Job wie jeder andere auch. Das ist für aber auch eine zwingende Voraussetzung, damit unser Betrieb funktioniert.

Mehr zum Jubiläum der Blinden Kuh, die auch eine Dependance in Basel hat, gibt es hier.



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