Lob und Tadel

Alle zehn Jahre gewährt Urs Heller Salz & Pfeffer eine Audienz. Im Interview spricht der Chefredaktor von Gault & Millau Schweiz über den Konkurrenten Michelin, den Zustand der helvetischen Gourmetgastronomie und verrät, wer nicht Koch des Jahres werden wird.
Interview: Tobias Hüberli – Fotos: Jürg Waldmeier
Veröffentlicht: 20.11.2016 | Aus: Salz & Pfeffer 6/2016

«Ich wollte immer einen fairen Guide herausgeben, so schwer das auch ist.»

Die neue Ausgabe des Gault & Millau ist gedruckt und kommt am 10. Oktober in die Verkaufsregale. Wie geht es der Schweizer Gourmetgastronomie? 
Urs Heller: Sie ist unter Druck, es gibt viele Wechsel. Zum ersten Mal ist auch die Zahl der erwähnten Restaurants im Gault & Millau zurückgegangen. Es sind noch immer über 800 Betriebe. Aber es ist schwieriger geworden, in der Schweiz ein gutes Restaurant zu führen.

Auffällig viele hoch bewertete Küchenchefs arbeiten mittlerweile in Hotels, in denen mehr Geld und Personal zur Verfügung stehen als in unabhängigen Restaurants. Fair ist das nicht.
In dieser Frage wirken zwei Kräfte in mir. Auf der einen Seite freut es mich, dass sich praktisch kein Hotel mehr leisten kann, eine schlechte Küche anzubieten. Das war nicht immer der Fall. Zudem ist ein Hotel ein sehr guter Ausbildungsplatz. Schlecht finde ich, dass die Spiesse nicht mehr gleich lang sind. Es ist klar, dass ein Koch im Hotel ganz anders wirken kann, weil er über die Matratzen subventioniert wird. Aber man kann diese Entwicklung nicht aufhalten. Ich hoffe nur, dass auch jene Köche, die weder Mäzen noch Hotel im Rücken haben, ihren Platz finden. Es gibt ja durchaus Beispiele dafür.

Die werden aber immer seltener.
Es ist schwierig, klar, aber vielleicht ist es auch eine Frage der Härte. Wenn ich höre, dass sich ein Koch mit 26 Jahren erschöpft in eine Auszeit begibt, weil er schon so wahnsinnig lange gearbeitet hat, dann ist das vielleicht nicht das Holz, aus dem die Champions geschnitzt sind. Nehmen Sie zum Beispiel Franz Wiget vom Restaurant Adelboden in Steinen, der kocht weitab vom Schuss, ohne Sponsor und ohne Hotel auf einem Topniveau. Sogar ich habe grösste Mühe, dort einen Tisch zu kriegen.

Sie bezeichnen das Engagement bei Gault & Millau als Ihr Hobby, was fasziniert Sie konkret an der Testerei?
Das Entdecken. Wir konnten in den letzten 20 Jahren vielen jungen Köchen aus dem Starthäuschen helfen. Danach müssen sie ihren Weg selbst gehen. Daniel Humm war zum Beispiel 2002 Entdeckung des Jahres. Ich bin auch überzeugt, dass Sven Wassmer eine grosse Karriere machen wird, Nenad Mlinarevic ist voll im Kommen und bei Tanja Grandits warenwir von Anfang an dabei. Das ist die schönste Rolle von Gault & Millau. Wie soll denn ein junger Koch irgendwo auf dem Land bekannt werden, wenn nicht durch einen Führer oder ein Magazin?

Vielleicht über Facebook oder Tripadvisor?
Das ist nicht vergleichbar. Nach einem Eintrag bei Tripadvisor ist noch nie ein Restaurant voll geworden. Erscheint jemand im Gault & Millau, «chlöpfts» in der Kasse. Kochen ist ein anstrengender Beruf, die meisten Köche haben weder die Zeit noch die Begabung für eine professionelle Kommunikation.

Wenn Sie zurückschauen, haben Sie Ihre Ziele mit Gault & Millau erreicht?
Ich wollte immer einen fairen Guide rausgeben, so schwer das auch ist. Denn am Ende ist das in vielen Bereichen eine subjektive Veranstaltung. Und ich habe mir immer gewünscht, dass der Gault & Millau ein solides Standing hat, dass man zumindest anerkennt, dass wir uns Mühe geben, dass wir fleissig sind und versuchen, gerecht zu sein. Ich glaube, das haben wir erreicht.

Reden wir über die Konkurrenz. Michelin-Sterne sind unter den Köchen beliebter als Gault-Millau-Punkte, ausser in der Schweiz.
Das hat damit zu tun, dass unsere Tester, im Gegensatz zu jenen von Michelin, aus der Schweiz stammen. Wie soll ein deutscher Michelin-Inspektor im Binntal eine Beiz entdecken? Dass sie bei uns abschreiben, daran haben wir uns langsam gewöhnt. Aber das Entdecken kriegen sie selber nicht hin. Und dann ist es hilfreich, dass Gault & Millau Schweiz in ein starkes Verlagshaus eingebunden ist. Diesen Vorteil können wir spielen. Es gibt kaum ein Magazin bei Ringier, das nicht über Restaurants schreibt und dabei Gault & Millau in einem Nebensatz erwähnt. In der Schweiz finden Köche darum beides gut: Sterne und Punkte.

Was halten Sie vom System Michelin?
Mit nur drei Abstufungen hätte ich Mühe, meinen Job zu machen. Bei Michelin sind drei Sterne ein klares Statement. Wenn ich aber die Liste mit Ein-Stern-Restaurants anschaue, sind die Unterschiede gewaltig. Das hilft mir als Gast nicht weiter. Wir haben die besseren Abstufungen und vor allem die Texte. Das sind 800 Mal eine journalistische Arbeit, mal besser, mal schlechter. Der Leser soll nach der Lektüre wissen, was ihn in dieser Wirtschaft erwartet.

Kürzlich hat Michelin einen Imbissstand in Singapur mit einem Stern ausgezeichnet. Ihre Meinung dazu?
Das ist vielleicht ein bisschen krass, aber sicher medienwirksam, und wenn er wirklich gut ist, wieso nicht?

Was würden Sie am Gault & Millau ändern, wenn Sie nicht an die Vorgaben des Lizenzgebers in Frankreich gebunden wären?
Eigentlich machen wir sowieso, was wir wollen (lacht). Ich könnte mir vorstellen, dass unter jedem Text der Name des Testers steht. Ich weiss nicht, ob das Anonyme noch in diese Zeit passt. Und wenn es Frankreich nicht gäbe, hätte ich Frédy Girardet 20 Punkte zum Abschied gegeben. Das war aber nicht erlaubt.

Bei unserem letzten Interview vor fast zehn Jahren prophezeiten Sie treffsicher das Ende der Molekularküche.
Sie hatte eine dämliche und eine gute Seite. Dämlich war, dass man die schönsten Produkte zugunsten eines Erlebnisses zerstörte. Gut ist, dass sie den Köchen ein paar interessante Techniken hinterlassen hat. Aber die Bewegung selbst war unsinnig.

Was prophezeien Sie der Neuen Nordischen Küche mit ihrem streng regionalen Ansatz?
Dass man als Koch zuerst vor seiner eigenen Türe nach Produkten sucht, ist nur natürlich und alles andere als neu. Das Gleiche gilt übrigens für die «Nose-to-Tail»-Bewegung, die im Grunde nichts Anderes ist als eine «Metzgete», ein Urphänomen der ländlichen Küche. Wenn nun Köche wie Nenad Mlinarevic die Suche nach lokalen Lebensmitteln auf die Spitze treiben, unterstütze ich das, weil es Konsequenzen hat. Zum Beispiel für die Bauern, die animiert werden, besser zu produzieren, weil sie einen höheren Preis erzielen können. Auch das Gespräch im Restaurant wird spannender und es befreit Köche in wirtschaftlich schwierigen Zeiten davon, extrem teure Produkte aus dem Ausland einzukaufen.

Sie sind jetzt 63 Jahre alt. Was passiert mit Gault & Millau nach der Ära Heller?
Das weiss ich auch noch nicht so genau. Ein paar Ideen sind schon da. Meinen Job als Tester kann man auch im Pensionsalter ausüben, so schwierig ist das nicht. Zurzeit beschäftige ich mich aber vielmehr damit, wie es mit dem Gault & Millau weitergehen soll.

Erzählen Sie.
Wir werden den Gault & Millau nächstes Jahr ausbauen und online zugänglich machen. Dort werden wir Platz schaffen für alle neuen Entwicklungen, die im gedruckten Gault & Millau keinen Platz haben, ich denke da an die Bloggerszene oder aber an Pop-up-Restaurants, die zurzeit komplett an uns vorbeigehen. Die Herausforderung wird sein, unsere Kompetenz ins Netz zu tragen. Dafür brauchen wir gute Blogger und klare Richtlinien. Auch online werden wir niemanden beleidigen, es ist nicht unsere Aufgabe, jemanden herunterzumachen.

Was sind die Kriterien für die Punktevergabe?
Es gibt Kriterien, nur sind sie schwierig zu formulieren. Am besten kann man es anhand eines Essens erklären, so bilde ich auch neue Tester aus. Das wichtigste Kriterium ist der Geschmack. Dann müssen etwa die Saucen frisch angesetzt sein. Es muss eine Handschrift erkennbar und Leidenschaft spürbar sein. Convenience ist eigentlich tabu; nur bei den Spaghetti sind eingekaufte Produkte meist besser als selbstgemachte.

Das ist alles ziemlich schwammig.
Wir vertreten die Gäste. Und die besuchen eine Beiz auch nicht mit einer 100-Punkte-Checkliste unter dem Arm und schauen, ob es genügend Toiletten-Ersatzpapier hat. Unsere Tester gehen unbeschwert ins Lokal, konzentrieren sich beim Essen, verteilen eine Punktezahl und beschreiben, was sie als Gast im Restaurant empfinden. Zum Beispiel, ob ihnen eine Sauce in Erinnerung bleibt, ob einen die Rechnung reut oder ob die vegetarische Freundin ebenfalls einen guten Abend verbrachte. Ich finde die weichen Kriterien gar nicht so schlecht, weil sie die Realität wiedergeben.

Was sagen Sie einem Koch, der sich 16 Punkte erkochen will und fragt, wie er das anstellen soll?
Da halte ich mich extrem zurück. Ich finde, dass jeder Koch seinen eigenen Weg gehen soll. Auch wenn ich denke, dass sich einige auf einem Irrweg befinden, ist es nicht meine Aufgabe, sie davon abzuhalten. Ich bin kein Koch, sondern Gast. Ich schreibe am Schluss einfach, was mir gefallen hat und was weniger.

Sie sagen, der Gault & Millau sei freundlicher geworden.
Eine normale Kritik besteht aus Lob und Tadel, so ist ja auch das Leben. Wenn wir nun aber über einen Landgasthof schreiben, dass alles wunderbar war, mit Ausnahme des «Güggels», dann heisst es im Lokalradio eine Stunde später: «Der Ochsen serviert schwarze Hühner.» Das Herauszitieren ist für uns heikel, weil oft der härteste Satz in der Kritik auf Reisen geht.

Das ist Journalismus, Sie kennen das Geschäft.
Klar, man zitiert ja nichts Langweiliges. Aber dieser Umstand hindert uns, im Text den ganz gewaltigen Kinnhaken auszuteilen. Da ziehe ich es vor, das Restaurant gar nicht mehr zu bringen. Wir streichen jedes Jahr ein Dutzend Restaurants. Früher zelebrierte man die Kritik noch auf eine andere Weise, aber damals war die Leserschaft viel kleiner und überdies eingeweiht. Man wusste damit umzugehen. Die neue Höchststrafe im Gault & Millau ist es, nicht mehr erwähnt zu werden.

Wie gehen Sie selbst mit Kritik um?
Völlig locker, das ist zwingend, wer austeilt, muss auch einstecken können. Es gibt aber einen Punkt, auf den ich allergisch reagiere.

Der wäre?
Ich lasse mir Selbstmorde nicht in die Schuhe schieben, wenn wir nichts damit zu tun haben.

Sie reden vom Suizid von Benoît Violier.
Genau. Die anschliessende Diskussion über den zu hohen Druck in der Gastronomie war schlicht absurd. Violier arbeitete seit 20 Jahren unter diesem Druck. Selbstmorde lassen einen meist ratlos zurück, selbst engste Angehörige finden keine Erklärung. Wenn aber einen Tag später in den Medien der böse Gault & Millau Schuld trägt, dann ist das nicht korrekt.

Die Kritik kam auch von Journalisten aus dem Ringier-Umfeld.
Ich verstehe den Mechanismus. Da gräbt man verzweifelt im Archiv und findet gerade mal drei Spitzenköche, die in den letzten 20 Jahren – warum auch immer – Suizid begangen hatten. Da würde mich die Quote bei den Ärzten oder Anwälten mal interessieren. Mich regt es dann aber auf, wenn Köche, die eine ruhige Kugel schieben, mir via Medien erzählen, unter welchem Stress sie stehen. Stress ist für mich, wenn ein Chirurg ein Kind am offenen Herzen operieren muss. Ob jetzt aber die Sauce etwas besser gerät oder nicht, kann kein ernsthafter Stress sein.

Wer soll Ihre Henkersmahlzeit kochen?
Bei allem Respekt für die jungen Köche, in dieser Brigade wären wohl «Oldies» wie Robert Speth, Martin Dalsass und Franz Wiget. Verabschieden würde ich mich mit einem Menü, in dem die Produkte gut erkennbar sind, mit wahnsinnigen Saucen, so wie sie Peter Knogl zaubert.

Wie wird der Koch des Jahres ausgewählt?
Wir führen für alle unsere Auszeichnungen eine Shortlist mit drei Kandidaten, die wir dann von verschiedenen Testern prüfen lassen. Dann frage ich auch andere Köche, was sie über die Kandidaten denken, ich will wissen, wie es in der Branche tönt. Und ich schaue bei den grossen Auszeichnungen, dass es finanziell keine Überraschungen gibt. Ein Koch des Jahres beispielsweise muss wirtschaftlich auf guten Beinen stehen.

Und: Wer wird Koch des Jahres?
Ich sage Ihnen, wer es nicht wird. Wir haben Franck Giovannini dieses Jahr sechs Mal besucht. Koch des Jahres wird er gleichwohl nicht. Vielleicht bin ich da konservativ, aber ich gehe nicht im gleichen Jahr an die Beerdigung von Benoît Violier und feiere im selben Haus eine grosse Party. Trotzdem erwartet man von uns eine Antwort auf die Frage, ob Crissier immer noch eine Topadresse ist. Die Antwort liefern wir am 10. Oktober.

Seit 20 Jahren leitet Urs Heller (63) die Redaktion des Gourmetführers Gault & Millau Schweiz. Seit 2008 ist der Luzerner zudem Geschäftsführer Zeitschriften Schweiz der Ringier AG. An der Spitze von Gault & Millau dirigiert Heller ein Team von 46 Testern in der Deutschschweiz und 20 Testern in der Romandie. Insgesamt werden über 800 Restaurants anonym getestet. Die Kosten für die Testessen belaufen sich pro Jahr auf 350 000 Franken. Anders als beim Gourmetführer Michelin arbeiten die Gault-Millau-Tester im Nebenamt. Das letzte Interview mit Heller publizierte Salz & Pfeffer am 5. August 2007, damals erklärte er sich «so alle zehn Jahre» bereit für ein Interview.



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