Als erstes nimmt der Helm Kontakt mit der Sonne auf.
Man fährt dann ja doch noch einen Umweg. Kurvt nach dem Albula über den Julier zurück, um den Albula ein zweites Mal zu nehmen. Weil die Sonne so schön scheint. Weil die Honda so satt schnurrt. Weil man kaum glauben kann, dass man über ganze 100 Kilometer hinweg weder verstarkregnet noch verhagelt wurde und man übermütig wird: Wie viele Dörfer schafft man noch, bis die Autos wieder den Bach hinunter schwimmen, an diesem gefühlt ersten Sommertag dieses Sommers?
Bei der Einfahrt ins Unterengadin stellt das Bikerpärchen fest, dass das Tal seinen Gästinnen* und Gästen dieses Jahr eine neue faszinierende Möglichkeit bietet, die Pracht der Berge zu betrachten: Es hat viele lange Baustellen mit vielen langen Rotphasen installiert. Für die Extraportion Musse. Die Biker in ihren schweren schwarzen Lederkleidungen sind entzückt. Dank langer Sünneli-Pausen und befreit von der Belästigung durch kühlende Fahrtwinde werden sie es ohne Erfrierungen ins Hotel schaffen.
Als erstes nimmt der Helm Kontakt mit der Sonne auf. Sie einigen sich auf 50 Grad Kopftemperatur. Bei Warteminute eins kitzelt der Schweiss in den Ohren. Bei Minute zwei kullern die ersten Perlen den Rücken entlang abwärts. Bei Minute fünf beginnt man, die Wirbel der Wirbelsäule zu zählen. Bei Minute 19 – in der Ferne taucht der Gegenverkehr auf – fliesst der Schweiss in Strömen am ganzen Körper herunter. So muss sich ein Dorf anfühlen, dessen Bach Autos mitreisst.
Bei Minute 46 brütet man über die Klimaerwärmung. Bei Minute 200 – die entgegenkommende Karawane quält sich in einer gewaltigen Staubwolke an einem vorbei – schwört man sich, die Honda auf Ebay auszuschreiben. Bei Minute 1000 schliesslich wird es grün. Doch noch. Alles klebt, aber hurra, man ist noch bei Bewusstsein. Für den Rest der Fahrt halluziniert die Sozia von der Toilette und der Fahrer von der Dusche im Hotelzimmer. Eine Epoche später fährt das Bikerpärchen vor dem Hotel vor. Beiden gelingt es, Helm und Schädel ohne nennenswerte Verluste voneinander zu trennen. Pflotschnass geht auch ohne Regen. Behängt mit den Taschen aus Topcase und Seitenkoffern arbeiten sie sich in ihren schweren Motorradstiefeln und Lederkluften bis in die Lobby vor.
Die maskierte Dame an der Rezeption ist entzückt: Gäste. Zwei Stück. Dampfend vor Freude. Die Dame begrüsst die beiden warmherzig und stellt sich als Gastgeberin vor. Ihr Blick wandert aus dem Fenster: «Ah, Sie sind mit dem Motorrad angefahren.» Eine blitzgescheite Frau. Nun informiert sie die frisch Angekommenen (kleiner Scherz) über alles Wissenwerte. So engagiert, wie sich das in einem familiengeführten Drei-Sterne-superior-Hotel gehört, in dem man sich gern Zeit nimmt.
Wissenswertes gibt es viel. Die Corona-Regeln. Alle. Die veränderten Abläufe. Alle. Die Frühstückszeiten. Schlüssel für die Tiefgarage, Funktionsweise, Lage der Tiefgarage, Parkplatznummer, Preis. Die Sozia presst ihre Beine zusammen und tänzelt. Die nette Gastgeberin erklärt den Weg zum Hotelzimmer – geradeaus, links, geradeaus, Türe, scharf links, wieder Türe, Treppe, erster Stock, wieder links, bis zum Ende des Gangs – und wie sich das Zimmer öffnen lässt. Biker und Sozia nicken höflich. Türen und Lifte werden ja wohl angeschrieben sein.
Nun fragt die Gastgeberin, ob man einen Ortsplan wünsche. Des Bikers Hirn denkt nicht mehr, es kocht nur noch. Er nickt im Delirium. Es ist der Fehler seines Lebens. Die Gastgeberin angelt sich einen Ortsplan aus dem Schrank, entfaltet ihn umständlich und beginnt zu erzählen, was man darauf so alles sehen würde, wäre die Brille nicht angelaufen vom Dampf, der aus der Corona-Maske aufsteigt. Zum Beispiel, welches die Hauptstrasse des Dorfes ist. Welche Nummern welche Restaurants sind. Welche gut sind und welche besonders gut. Wo sich die Talstation befindet. Wie viel man mit der Gästekarte spart. Der Biker nickt. Nicht weil er sich beim Kauf des Motorrades geschworen hat, als anständigster Biker der Welt in die Geschichte einzugehen, sondern weil er nicht mehr denken kann.
Minuten später packt das Bikerpärchen sich das Gepäck und kämpft sich weiter. Geradeaus, links, und dann, äh. Keine Türen sind angeschrieben, keine Menschen sind im Haus. Nach drei Versuchen hat man den Weg gefunden, und hurra: Die Zimmertüre springt auf. Er.Lö.Sung. Unter der Dusche springt das Gehirn dann langsam wieder an. Und es denkt sich, dass doch nichts, wirklich nichts, über eine freundliche Gastgeberin geht. Eine mit dem Blick für das Wesentliche.
* Triggerwarnung: «Gästin» kommt in diesem Text vor, weil die Sprachwissenschaftler Wilhelm und Jacob Grimm den Begriff in ihrem massgeblichen deutschen Wörterbuch im vorletzten Jahrhundert genauso selbstverständlich aufführten wie die Geistin, die Engelin, die Männin oder die Landsmännin. Warum die Begriffe seither aus der deutschen Sprache verschwanden, weiss wohl nur die Teufelin.