Wirklich unzufrieden könnten im Restaurant Flocons de Sel nur die Fleischesser alter Schule sein.
Eine irgendwie verwunschene Küche muss es sein. Manche Gäste, die der Service nach dem Bezahlen der Rechnung dorthin bittet, werden schnell wieder ausgespuckt, andere kommen einfach nicht wieder zum Vorschein. Ob missliebige Kunden in die Kühlkammer gesperrt werden, bis sie den Künsten des Chefs ausreichend gehuldigt haben? Wirklich unzufrieden könnten im Restaurant Flocons de Sel allerdings nur die Fleischesser alter Schule sein. Die Liebhaber von Markbein und Gänsestopfleber, all jene, die ohne grosse Portionen Wagyu nicht auskommen, die Dry-Aged-Adepten. Fleisch kommt im Menü des Emmanuel Renaut zwar vor, aber es spielt keine wesentliche Rolle. Steht es auf dem Tisch, nach vielen anderen Gängen und Stunden, ist auch der hungrigste Gast beinah satt, sehnt statt Muskel und Innerei eher Sorbet und Soufflé herbei. Und staunt, zieht er vorsichtige Bilanz, was bisher so alles gemacht wurde aus Getreide und Gemüse, Pilzen und ein bisschen Creme, Kaffee und Kräutern.
Was Renaut, der Drei-Sterne-Koch aus Megève, so alles tut, sammelt, einkauft und ansetzt, wissen allerdings längst nicht alle. Obwohl der Mann mit dem Kragen in Nationalfarben – den Titel des Meilleur Ouvrier de France trägt er mit Stolz – beim legendären Marc Veyrat gedient hat, pflegt er einen zurückhaltenden Stil. Selbstdarstellung mit Schlapphut ist Renaut fremd, die Runde durchs Restaurant scheut er, fürs TV zu posieren, Kräuter sammelnd, den Mond anbetend und über die Abgründe des Universums philosophierend, liegt ihm wenig. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ihm der Michelin vor ein paar Jahren die Höchstnote zugestanden hat.
Vielleicht ist dem grossen roten, immer noch ein bisschen konservativen Guide nicht nur die üppige Bordeauxsammlung (Yquem bis in die Vierzigerjahre), sondern auch jene Frage geschuldet, die einem die Kellnerin mit treuherzigem Augenaufschlag stellt. Sich ganz von den Konventionen zu lösen, ist auf diesem Level noch undenkbar, und wer das grosse Menü ordert, darf sich den nominellen Hauptgang aussuchen, als démi-portion à la carte. Die Kellnerin, die bestimmt Delphine oder Océane heisst oder zumindest Justine, lächelt mit französischstem Charme und zählt auf, was es gibt. Hirsch mit Blaubeeren, Milchlamm aus dem Aveyron, Milken. Da hilft kein Zögern. Später wird sie zurückkommen und fragen, ob der Gast vielleicht als lustiges Supplément noch den Kalbskopf kosten möge, eine hübsche tête de veau révisitée, mit winzigen Croûtons, vielen Blütenblättern und einer säuerlichen, schaumigen Sauce. (Dass Mademoiselle danach enttäuscht schaut, weil der mit lauter nur auf dem Papier halben Portionen gestopfte Kunde beim Vorfahren des Käsewagens verzweifelt abwinkt, hat sie sich selbst zuzuschreiben.) Die Käse stammen von hier, klar, aus der an erstklassigen Sorten reichen Region Savoyen, auch Brot wäre noch da. Es ist schon zu Beginn des Essens in üppiger Menge gebracht worden. Ein ganzer Laib, ein Trumm von Butter. (Welches Brot! Welche Butter!)