09.07.2019

Am Höhepunkt angekommen

Text: Virginia Nolan – Fotos: z. V. g. / Tania Quispe / Tina Sturzenegger / Archiv Salz & Pfeffer
In der Spitzengastronomie ist der Hauptgang für den Koch eine Herausforderung. Was bietet sich nach fünf Gängen noch als sogenannte Krönung an? Wir haben nachgefragt.
Hirsch mit Steinpilzen, Holunder und Curry: Ein Hauptgericht von Heiko Nieder, Küchenchef im The Restaurant im Luxushotel The Dolder Grand, Zürich
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«Den Hauptgang als Krönung zu bezeichnen, würde nahelegen, dass er die anderen Gänge an Raffinesse übertrifft. Das ist nicht das Ziel

Vorspeise, Hauptgang, Dessert – dieser Trilogie folgt in aller Regel die Speisenabfolge, wie sie in Restaurants und Privathäusern am geläufigsten ist. Lehrbücher bezeichnen sie auch als modernes Menü, hervorgegangen als abgespeckte Version des klassischen Menüs nach französischer Vorlage. Kommt dieses zum Zug, ist der Spass nach drei Speisen bekanntlich noch lange nicht zu Ende. So sind acht bis mitunter sogar zehn Gänge in der Spitzengastronomie keine Seltenheit. Gemeinsam ist Durchschnittsbeiz und Sterne-Restaurant, dass der Gast den Hauptgang traditionellerweise als Krönung im Speisegefüge begreift.

Die Frage, was sich als Höhepunkt noch anbietet, wenn bereits fünf Gänge ins Land gezogen sind, dürfte Sterne-Köche umtreiben. Wie lösen sie diese Herausforderung? Geht es nach Heiko Nieder vom The Restaurant im Zürcher Luxushotel Dolder Grand, gilt es zunächst einmal, ein Missverständnis zu klären: «Den Hauptgang als Krönung zu bezeichnen, würde nahelegen, dass er die anderen Gänge an Raffinesse übertrifft. Das ist nicht das Ziel: Jeder Gang sollte geschmacklich vollendet und somit gleichwertig sein.» Der Hauptgang habe in der Speiseabfolge allerdings eine wichtige dramaturgische Funktion: «Er stellt, was die Intensität der Geschmäcker betrifft, den Höhepunkt wahr, während die Gänge davor diesen Spannungsbogen langsam aufbauen. Den Hauptgang soll der Gaumen als besonders dicht und maximal aromatisch wahrnehmen.» Dafür setzt Küchenchef Nieder sowohl bei Fleisch als auch Gemüse gerne auf Geschmortes, Reduktionen und kräftige Gewürze, «richtige Umami-Bomben». Und er reduziert – auch bereits im Gang davor – die Säure: «Sie tut schweren Weinen nicht gut.» Ein Hauptgrund dafür, dass Nieder an der klassischen Speiseabfolge mit prominentem Hauptgang festhält, ist denn auch das Anliegen, den Wein gebührend in Szene zu setzen: «Der Hauptgang ist der Zeitpunkt für kräftige, charaktervolle Weine, deren Auftritt ich nicht dem Zufall überlassen will.»

Gegrilltes Carpaccio vom japanischen Wagyu-Entrecôte, Zwiebel, Sauerrahm, Sherryessig-Vinaigrette: Leicht und säurebetont kommt der Hauptgang von Küchenchef Stefan Heilemann im Zürcher Restaurant Ecco daher.
Gegrilltes Carpaccio vom japanischen Wagyu-Entrecôte, Zwiebel, Sauerrahm, Sherryessig-Vinaigrette: Leicht und säurebetont kommt der Hauptgang von Küchenchef Stefan Heilemann im Zürcher Restaurant Ecco daher.
Es darf nicht zu schwer sein: Saibling mit Blumenkohl und Kaviar von Silvio Germann, Küchenchef im Igniv by Andreas Caminada in Bad Ragaz
Es darf nicht zu schwer sein: Saibling mit Blumenkohl und Kaviar von Silvio Germann, Küchenchef im Igniv by Andreas Caminada in Bad Ragaz
Wenig Komponenten, viel Geschmack: Ennetbürger Rindsentrecôte, Knochenmarksauce, Knusperkartoffel, rote Zwiebel – ein Hauptgang von Sebastian Rösch, Restaurant Mesa
Wenig Komponenten, viel Geschmack: Ennetbürger Rindsentrecôte, Knochenmarksauce, Knusperkartoffel, rote Zwiebel – ein Hauptgang von Sebastian Rösch, Restaurant Mesa

Weniger ist mehr, lautet die Devise von Sebastian Rösch im Zürcher Restaurant Mesa. «Zunächst einmal soll der Hauptgang vor allem heiss sein», sagt der Küchenchef, «darin liegt eine der grössten Herausforderungen.» So empfehle sich nur schon aus praktischen Gründen, auf allzu viele Komponenten zu verzichten, «das wird kalt». Aber auch aus sensorischer Perspektive dürfe der Hauptgang nicht zu kompliziert daherkommen. «Wenn der Gast schon fünf Gänge gegessen hat, ist es ganz gut, für etwas Ruhe zu sorgen», findet Rösch. Gefragt seien also weder zig unterschiedliche Komponenten noch Texturen, vielmehr gehe es darum, das geschmackliche Potenzial einer überschaubaren Anzahl Ingredienzen mit der richtigen Zubereitungsart auszuloten und kräftige Aromen ins Spiel zu bringen. Rösch arbeitet gerne mit dem Grill, er hat auch ein Faible fürs Gratinieren und Saucen, die einem an sich puristischen Gericht die nötige Komplexität verleihen. Derzeit hat der Küchenchef etwa gratinierten Junghahn mit Eierschwämmchen und Zucchetti oder ein Ennetbürger Rindsentrecôte mit Knochenmarksauce, Knusperkartoffel und roter Zwiebel auf der Karte. Seine Hauptgänge portioniert er so, «dass sie einen nicht platt machen, aber gleichzeitig die Erwartung erfüllen, dass da jetzt ein bisschen mehr kommt». Die Sättigungsbeilagen reicht er oft auf einem separaten Teller, damit der Gast selbst entscheiden kann, wie viel er nehmen möchte. «Was es nicht braucht, soll nicht drauf», lautet Röschs Resümee zum Thema Hauptgang, «aber geschmacklich muss es knallen.»

Auf eine überschaubare Anzahl Komponenten achtet auch Silvio Germann, Küchenchef im Igniv by Andreas Caminada in Bad Ragaz. «Nach verschiedenen Vorspeisen und entsprechender Weinbegleitung», glaubt er, «stellt sich die Frage, was der Gast noch herausschmecken kann. Da überfordert man ihn leicht.» Ebenso behält er kreative Spielereien, die vor allem das Auge erfreuen, den Vorspeisen vor – aus ähnlichen Gründen wie sein Kollege Rösch: «Investiert man beim Hauptgang zu viel Zeit fürs Anrichten, kommt der Teller kalt auf den Tisch. Das will ich auf jeden Fall verhindern.» Wie auch Nieder begreift Germann den Hauptgang nicht als Krönung des Abends, jedoch als Höhepunkt im Spannungsbogen der Aromadichte. «Aber es darf nicht zu heavy sein», findet er. So verzichtet Germann beim Hauptgang nicht auf Säure, sondern baut sie gezielt mit ein, etwa in Form von Pickles oder einer Vinaigrette, die er zum geschmorten Lattich mit Knochenmark reicht. Den Wein konkurrenziere das nicht, findet Germann: «Unser Sommelier sucht die Weine so aus, dass sie zu mehreren Gängen passen. So arbeiten wir zum Beispiel gerne mit grossformatigen Flaschen, die auf dem Tisch ein Hingucker sind und die Geselligkeit, auf die unser Sharing-Prinzip abzielt, unterstreichen.»

Schwer ist zum Hauptgang kein Muss, wenn es nach Stefan Heilemann geht, weder beim Wein noch beim Essen. «Wir pflegen eine leichte und eher säurebetonte Küche, gerade auch bei Jus und Saucen», sagt der Küchenchef im Gourmetrestaurant Ecco des Zürcher Fünf-Sterne-Hotels Atlantis by Giardino. Im Hauptgang schaffe er mit kräftigen, erdigen Begleitern entsprechende Kontraste. So gesellt sich zum Perlhuhn mit Yuzu, wildem Brokkoli und Sauerrahm etwa ein australischer Wintertrüffel. Während er als Koch jeden Gang als gleichwertig erachte, habe der Hauptgang für den Gast eine besondere Bedeutung, sagt Heilemann: «Der Hauptgang als Highlight, das ist in den Köpfen so verankert. Entsprechend geht dann auch die Dramaturgie bei den Aromen etwas nach oben.» Das gilt aber nicht unbedingt für die Portionengrösse, die Heilemann bei jedem Gang ähnlich arrangiert. Auch verzichtet der Küchenchef ausser Brot auf Sättigungsbeilagen – ebenfalls beim Hauptgang. «Es empfiehlt sich, den Gast hinsichtlich Kalorien und Portionengrösse etwas zu schonen», sagt Heilemann, «denn das Schlimmste ist, wenn er den Hauptgang nicht geniessen kann, weil er schon völlig übersättigt ist.»