Matthias Diether sagt erst mal nichts. Muss er auch nicht, denn das Ambiente des modernen Gebäudes am Noblessner-Hafen von Tallinn spricht für sich. Laut spricht es, selbstbewusst. Dazu passt der Name: 180 °. Hat Wiedererkennungswert, ist in allen Sprachen leicht zu verstehen, aber über den Sinn nachdenken muss keiner. Einmal eingetreten, wird der Gast von der Empfangsdame willkommen geheissen, in den Salon zur Linken geführt und mit Champagner bewirtet. Etwas anderes wäre auch zu haben, würde aber kaum zum Flair passen. Man zeigt hier, was man hat. Macht klar, dass man es sich leisten kann, im einzigen Zwei-Sterne- Restaurant der baltischen Staaten zu dinieren. Die Tatsache, dass ein deutscher Koch es für spannend befand, seine Kunst nicht in Berlin, sondern in Tallin zu zeigen, schmeichelt den Esten und Estinnen. Einen Schweizer Spitzenpatissier hat man noch obendrauf bekommen, aber es ist ja erst Apéro-, noch nicht Dessertzeit ...
Auch im estnischen Wald kocht eine Ausländerin. Die Finnin Karoliina Jaakkola hat in einigen Toprestaurants gearbeitet, trat im Fernsehen auf, hat soeben Gefallen gefunden an dem Projekt namens Soo, eine knappe Autostunde jenseits von Tallinn. In die menschenleeren Weiten der estnischen Landschaft würde sich niemand verirren, würde sich nicht die Nachricht vom etwas anderen Resort langsam herumsprechen. Der Michelin liess einen grünen Stern da, was wenig ist und wieder mal zeigt, dass der Guide Probleme hat mit ungewöhnlichen Restaurants. Investiert wurde auch, ähnlich wie im 180 °, aber anders. Das Lokal ist winzig, mit zehn Gästen schon rappelvoll. Viel Holz, ein bisschen Flohmarkt-Charme, der sich bei genauerem Hinsehen als kluges Design entpuppt. Durch die Fenster des ehemaligen Dienstbotengebäudes kann man die alte Villa sehen, das Herrenhaus, aus dem die Herren indes längst ausgezogen sind.
Achtung, ein Spaziergang hinüber zum Anwesen gehöre zum Programm, warnt man schon vor dem Amuse-Bouche und rät, sich später eine Jacke überzustreifen. Die Tour vor oder nach dem Essen respektive zwischen den Gängen scheint Schule zu machen in der gehobenen Gastronomie. Stefan Wiesner läutet im schweizerischen Bramboden ja auch eine halbstündige Pause vor dem Hauptgang ein; der Gast darf dann durch die Landschaft streifen. Das spanische Drei-Sterne-Restaurant Cenador de Amós wiederum zeigt vor dem Apéro erst mal die hauseigene Bäckerei, lässt am Brot schnuppern, das gleich darauf auf den Tisch kommt. Im Restaurant Soo, das zum Maidla Nature Resort gehört, kommt auch Brot. Grossartiges, um genau zu sein. Chefin Jaakkola erklärt in allen Einzelheiten, wie es hergestellt, wie glasiert wurde – Tatsache ist, dass man sofort hineinbeisst und gar nicht mehr aufhören will.
Bei Matthias Diether kommt erst mal ... nichts. Der Champagner ist fast leer, aber Häppchen wurden noch keine gereicht. Ob die Küche wartet, bis alle Gäste da sind? Aber dann wird es doch spannend, interessant, hochklassig. Diether hat in Deutschland hohe Ehren erreicht, arbeitete mit Dieter Müller und Sven Elverfeld, führte das Berliner First Floor zu einem Stern, weiss genau, was er tut und kocht. Und denkt nicht daran, sein Können zu verschenken. Knapp 200 Euro kostet das 180 °-Menü, das sich mit Kaviar und Käse mühelos auf über 300 aufstocken lässt.