19.11.2024 Salz&Pfeffer 6/24

Baltische Gegensätze

Text: Wolfgang Fassbender – Fotos: Pascale Gueret, Lauri Laan, z.V.g.
Estlands Gastronomie entwickelte sich in den letzten Jahren auf eindrucksvolle Art und Weise. Internationale Gourmandise hat hier ebenso ihre Berechtigung wie die Arbeit mit heimischen Zutaten.
Chefs Table HDR Fullsize Fotograaf.Lauri.Laan
«Aber dann wird es doch spannend, interessant, hochklassig.»

Matthias Diether sagt erst mal nichts. Muss er auch nicht, denn das Ambiente des modernen Gebäudes am Noblessner-Hafen von Tallinn spricht für sich. Laut spricht es, selbstbewusst. Dazu passt der Name: 180 °. Hat Wiedererkennungswert, ist in allen Sprachen leicht zu verstehen, aber über den Sinn nachdenken muss keiner. Einmal eingetreten, wird der Gast von der Empfangsdame willkommen geheissen, in den Salon zur Linken geführt und mit Champagner bewirtet. Etwas anderes wäre auch zu haben, würde aber kaum zum Flair passen. Man zeigt hier, was man hat. Macht klar, dass man es sich leisten kann, im einzigen Zwei-Sterne- Restaurant der baltischen Staaten zu dinieren. Die Tatsache, dass ein deutscher Koch es für spannend befand, seine Kunst nicht in Berlin, sondern in Tallin zu zeigen, schmeichelt den Esten und Estinnen. Einen Schweizer Spitzenpatissier hat man noch obendrauf bekommen, aber es ist ja erst Apéro-, noch nicht Dessertzeit ...

Auch im estnischen Wald kocht eine Ausländerin. Die Finnin Karoliina Jaakkola hat in einigen Toprestaurants gearbeitet, trat im Fernsehen auf, hat soeben Gefallen gefunden an dem Projekt namens Soo, eine knappe Autostunde jenseits von Tallinn. In die menschenleeren Weiten der estnischen Landschaft würde sich niemand verirren, würde sich nicht die Nachricht vom etwas anderen Resort langsam herumsprechen. Der Michelin liess einen grünen Stern da, was wenig ist und wieder mal zeigt, dass der Guide Probleme hat mit ungewöhnlichen Restaurants. Investiert wurde auch, ähnlich wie im 180 °, aber anders. Das Lokal ist winzig, mit zehn Gästen schon rappelvoll. Viel Holz, ein bisschen Flohmarkt-Charme, der sich bei genauerem Hinsehen als kluges Design entpuppt. Durch die Fenster des ehemaligen Dienstbotengebäudes kann man die alte Villa sehen, das Herrenhaus, aus dem die Herren indes längst ausgezogen sind.

Achtung, ein Spaziergang hinüber zum Anwesen gehöre zum Programm, warnt man schon vor dem Amuse-Bouche und rät, sich später eine Jacke überzustreifen. Die Tour vor oder nach dem Essen respektive zwischen den Gängen scheint Schule zu machen in der gehobenen Gastronomie. Stefan Wiesner läutet im schweizerischen Bramboden ja auch eine halbstündige Pause vor dem Hauptgang ein; der Gast darf dann durch die Landschaft streifen. Das spanische Drei-Sterne-Restaurant Cenador de Amós wiederum zeigt vor dem Apéro erst mal die hauseigene Bäckerei, lässt am Brot schnuppern, das gleich darauf auf den Tisch kommt. Im Restaurant Soo, das zum Maidla Nature Resort gehört, kommt auch Brot. Grossartiges, um genau zu sein. Chefin Jaakkola erklärt in allen Einzelheiten, wie es hergestellt, wie glasiert wurde – Tatsache ist, dass man sofort hineinbeisst und gar nicht mehr aufhören will.

Bei Matthias Diether kommt erst mal ... nichts. Der Champagner ist fast leer, aber Häppchen wurden noch keine gereicht. Ob die Küche wartet, bis alle Gäste da sind? Aber dann wird es doch spannend, interessant, hochklassig. Diether hat in Deutschland hohe Ehren erreicht, arbeitete mit Dieter Müller und Sven Elverfeld, führte das Berliner First Floor zu einem Stern, weiss genau, was er tut und kocht. Und denkt nicht daran, sein Können zu verschenken. Knapp 200 Euro kostet das 180 °-Menü, das sich mit Kaviar und Käse mühelos auf über 300 aufstocken lässt.

Filigrane Speisen auf Zwei-Sterne-Niveau sind typisch fürs 180 °.
Filigrane Speisen auf Zwei-Sterne-Niveau sind typisch fürs 180 °.
Matthias Diether fühlt sich im modernsten Restaurant Tallinns wohl.
Matthias Diether fühlt sich im modernsten Restaurant Tallinns wohl.
Karoliina Jaakkola findet neuerdings Gefallen an estnischer Weite.
Karoliina Jaakkola findet neuerdings Gefallen an estnischer Weite.
Soo MG 8361
Zutaten aus der Region und eine puristische Zubereitung sind charakteristisch fürs Soo.
Zutaten aus der Region und eine puristische Zubereitung sind charakteristisch fürs Soo.

Apropos Käse. Regionale Ware? Diether winkt ab. Er habe in dem Elsässer Maître Antony den besten Lieferanten gefunden. Estnisch sei nichts an seiner Küche, so Diether, international sei sie. Er sagt es mit viel Selbstbewusstsein. Aber er kann es er- klären. Estland, das Land, das so lange von den Nachbarstaaten dominiert wurde. Der Deutsche Orden war mal sehr präsent, die russische Grenze ist nah. Eigene Spezialitäten, unverwechselbar, wurden kaum herausgearbeitet. Ja, das schwarze, leicht süsse Brot, das gibt es, aber sonst? Sauerkraut. Würste. Nicht spannend genug für den 180 °-Chef. «Ich bin Produktfetischist», sagt Diether, der sich gern aus dem Westen beliefern lässt. Helgoländer Hummer kommt mit chinesischem Kaviar auf einen der Teller, serviert an der Theke der viereckigen Küche. Violetter Senf zur neckischen Nürnberger Bratwurst mit Champagnerkraut. Natürlich Atlantiksteinbutt, weil man den nun mal serviert in der internationalen Spitzengastronomie. Oder weil ihn die Gäste just dieser Gastronomie essen wollen. Zum Kaninchen gibt es Perlen vom Valençay-Käse und eine mit Foie gras angereicherte Sauce riche. Grosse, weitgehend klassische Küche. 120 Menüs pro Woche gingen raus, sagt Diether. Der Laden brummt. «Es war der wichtigste Schritt für mich, herzukommen», so der Chef.

In Maidla stehen auch Schritte an – im wahrsten Sinn des Wortes. Roggentarte mit einer Creme aus geröstetem Blumenkohl und Forellenkaviar wurde bereits serviert, Profiteroles mit hausgemachtem Pastrami, die Wachtelpastete mit einer Sauce aus gerösteter Hefe. Nun aber der geführte Spaziergang, der angekündigte, zum Herrenhaus. Verlassen steht es da und ziemlich runtergekommen, firmierte lange als sowjetisches Waisenhaus. Auf Denkmalschutz nahm niemand Rücksicht nach Krieg und Vertreibungen. Türen, Wände und Treppen wurden eingebaut, die alten Böden mehrfach schäbig überdeckt. Das Erdgeschoss ist beleuchtet, sieht gespenstisch aus. Es wird ein Vermögen kosten, das Anwesen zu einem schicken Hotel umzubauen, falls es je dazu kommen sollte. Erst mal hat man auf Maidla, wo ja keiner mehr fahren will nach dem Essen, drei moderne Nature Villas in die Wildnis platziert. Kamin, Terrasse, Ausblick. Nach dem Abendessen gilt es ein paar Hundert Meter hinauszuwandern in den Wald. Nichts für ängstliche Gäste. Ringsum nämlich, da ist nichts ausser Natur. Aber was für eine!

Die auf den Teller zu platzieren ist Jaakkola wichtig. «Eigentlich kam ich nach Estland, um ein Fine-Dining-Restaurant mit einigen meiner Kollegen zu eröffnen», sagt die Soo-Chefin. Aus dem Projekt wurde nichts, doch Jaakkola blieb. «Ich sehe immer noch ein grosses Potenzial in der sich schnell entwickelnden kulinarischen Szene Estlands», sagt sie. Der Maidla-CEO gab ihr die Gelegenheit, etwas zu kreieren. «So landete ich hier.»

Wer schon mal im schwedischen Fäviken war, fühlt sich ein bisschen erinnert an den dortigen Genussstil. Auch hier kommt die Küchenchefin mit jedem Gericht in den Gastraum, erläutert für alle die verwendeten Gerichte, Zutaten, Zubereitungen. Der Zander, saftig und knusprig, wird mit einer Kartoffelterrine und Krustentiersauce aufgetragen, steht Diethers Steinbutt in nichts nach. Auch die Sauerteig-Ciabatta mit Rotweinbutter sowie die Tonkabohnenmousse mit Kaffeekaramell machen Spass, schliesslich gibt es noch Petits fours mit Rhabarber und Rosen. Viel von dem, was in den Wäldern wächst, wird verarbeitet, eingemacht, fermentiert. Produktfetischistin, so wie Kollege Diether, ist Jaakkola auch, nur anders. Und bei den Getränken geht es ebenso präzise und neugierig zu wie beim Essen. Elsässer Wein und ein mit Aprikosen verfeinertes estnisches Dosenbier stehen im Pairing, das den Menüpreis von 98 Euro nicht sonderlich in die Höhe treibt.

Bei Diether, im schicken 180 °, könnte man die Weinbegleitung nicht nur in der Normal-, sondern sogar in einer Premiumversion bekommen. 289 Euro zusätzlich wären dann fällig, aber es sieht nicht danach aus, als würden die hiesigen Gäste Probleme mit hohen Preisen haben. Offenbar reicht das Budget auch, um dann und wann den einst in der Schweiz zu Ruhm gekommenen Patissier Kay Baumgardt einfliegen zu lassen. Er kreiert als Süssigkeiten-Consultant die Desserts, die im estnischen Alltagsgeschäft nach seinen Vorgaben zubereitet und angerichtet werden. Banane, Estragon, Miso. Klingt gut. Schmeckt klasse. Ist unverkennbar Baumgardt. Ob es so was braucht, in Estland, oder ob Jaakkolas Nature Style zu bevorzugen ist, das muss dann jede und jeder selbst entscheiden.

Restaurant Soo, Maidla Nature Resort, Maidla mõis 1, Maidla Village Raplamaa 79408, Estland +372 5648 8132
maidlaresort.com

Restaurant 180 °, Staapli 4, Port Noblessner Tallin 10415, Estland, +372 661 0180
180degrees.ee