11.10.2017 Salz&Pfeffer 7/17

Beschimpfer und Käufer

Die Tomate hat von allen Gemüsen den tiefsten IQ. Das weiss jeder, der schon mal probiert hat, mit einer Tomate ein intelligentes Gespräch zu führen.
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«Diese sind sexy gezüchtet, halten ewig und taugen für eine Partie Billard in der Zimmerstunde.»

Immerhin ist sie sexy, und damit lässt sich ja einiges kompensieren, nicht nur bei Gemüsinnen und Gemüsen. Der Fenchel ist shabby-chic und bleibt liegen, aber die Tomate glänzt lippenrot und fleischeslüstern, kleidet sich auch gern aufreizend in Cellophan und gibt die Celebrity unter den Gemüsen. Celebrities sind Zierrat bei Uraufführungen und Eröffnungen und Tomaten Zierrat in Restaurants auf Platten und Tellern, immer, überall, ausnahmslos, ununterbrochen und seit Jahrzehnten. Sex sells nun mal.

Derselben Tomate schlägt allerdings seit Jahrzehnten auch Mitleid oder Verachtung entgegen. Weil sie «nach Wasser schmeckt». Die Pointe vom «vierten Aggregatszustand von Wasser» brachte Der Spiegel bereits in den Siebzigerjahren. Trotzdem ist die Tomate in vielen Ländern das meistgekaufte Gemüse, was den Verdacht aufkommen lässt, dass der IQ mancher Tomatenbeschimpfer jenem der Tomate entspricht.

Dass Tomaten nicht in den Kühlraum gehören, wenn sie ihren Geschmack bewahren sollen, ist noch nicht zu allen Hobbyköchen durchgedrungen, und manchen Berufsköchen ist es wurscht. Kälte verlangsamt das Reifungsprogramm der Tomate und damit die Produktion der Aromastoffe. Zudem verliert die Tomate über den Stielansatz Aromen. Nach einer Woche Kühlschrank hat sie zwei Drittel ihrer Aromamoleküle abgegeben. Die Tomatenbeschimpfer kaufen trotzdem möglichst feste Tomaten, die noch drei Wochen durchhalten sollen – im Kühlschrank.

Die Zulieferer sind natürlich nicht unschuldig, die verkaufen am liebsten Longlife-Sorten. Diese sind sexy gezüchtet, halten ewig und taugen für eine Partie Billard in der Zimmerstunde. Eher gehen Bande oder Queue zu Bruch, als dass eine Longlife-Tomate Quetschungen davonträgt. Der Handel kann sie wochenlang durch die Welt distribuieren. Ist der Preis unten, kaufen die Händler sich die Lager voll und lassen die Tomaten dort vier Wochen stehen. Die Schönheit bleibt, der Geschmack nicht. Die Tomatenbeschimpfer kaufen sie trotzdem, am liebsten im Februar. Besonders wenn der Mozzarella Aktion ist, also immer. 

Die von Holland heruntergekarrten Gewächshaustomaten oder die aus Marokko eingeflogenen Wintertomaten werden zu früh geerntet und bis zum Verkauf mit Wachstumsregulatoren oder Reifungsbeschleunigern wie Etephon zu Ende «gereift» – sprich: schöngefärbt. Und das nur, weil die Tomatenbeschimpfer regelmässiges Rot wollen oder Gelb, Orange oder Dunkel, das ganze Jahr. Ausserdem sind ihnen saisonale, regionale Biotomaten, strauchgereift bis kurz vor dem Verkauf, zu teuer, das Geld haben sie bereits für eine schweineteure Hightech-Nobelküche ausgegeben. 

Man kann sie ja auch selber ziehen. Im Mund schmecken sie ein bisschen, im Herzen viel besser. Aber die Samen stammen oft genug aus den Programmen der hochgezüchteten Saatgutkonzerne. Pro Specie Rara? Nie gehört. Oder aber gehört und gesehen und als zu teuer befunden. Biodiversität? Kompliziertes Fremdwort, weiterblättern zum Königshaus, auch Tomatenbeschimpfer haben was für Celebrities übrig. Dass die Konzerne Saatgut patentieren lassen, deren Früchte immun sind gegen Herbizide oder Pestizide aus demselben Konzern, ist ihnen bereits zu kompliziert. Tomaten sind wenigstens künstlich gereift, Tomatenbeschimpfer nicht mal das. 

Dasselbe gilt für ihre Gemütsverwandten, die Erdbeerbeschimpfer, und die Aprikosen-, Pflaumen- und auch die Peperonibeschimpfer, die das ganze Jahr über die holländische rot-orange-gelbe Dreifaltigkeit kaufen, bei Aktionen zwei Packungen, um dann eine davon der Foodwaste zuzuführen. Die Konsumenten und Gäste sind genauso überzüchtet, wie es ihre Produkte sind. Aber well. Es gibt Hoffnung. Es existieren einige Sorten Kleintomaten, die schon sowas haben wie Aroma. Es gibt Forscher, die an Geschmäckern tüfteln. Und es gibt Widerstandsgruppen von Leuten, die handeln statt schimpfen. Geniesser, die Pro-Specie-Rara-Produkte probieren, obwohl sie kräftig teurer sind. Macher, die seltene Samen recherchieren und daraus selber Tomaten ziehen. 

Unter den Tomatengruppen auf Facebook gibt es richtig hübsche Rebellennester. Die Community Tomatenretter hat 3500 Kämpfer der gehobenen Vielfalt. Unter dem hübschen Stichwort «Tomaten gegen rechts» unterstützen die Tomatenretter schon mal mit einem Augenzwinkern ein Anti-Nazi-Fest für Toleranz und Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern. Und auf ihrem Hof feiern sie und ihre idealistischen Helfer Tomatenfeste mit Workshops, Ritualen, Feuerstellen und Brot am Stecken, Veganer und Künstler willkommen, es ist der Charme der leicht Durchgeknallten. Es gibt sogar eine reichlich dadaistische Schweizer Religion namens Tomate, mitsamt Orakel, Mantra, Tempel in Aussersihl und Konzil im Volkshaus. So weit wirds der Fenchel wohl nie bringen.

Irgendwann gewinnen die Tomaten-Guerilleros vielleicht Überhand und etablieren eine Tomatenvielfalt, so wie die Kleinbrauer eine neue Biervielfalt ermöglichten. Und dann haben wir auf Tellern und Platten womöglich Zierrat, der immer noch Tomate ist, aber trotzdem Freude macht. Die Schimpfer werden dennoch weiterschimpfen. Wenn nicht über Tomaten, dann über etwas anderes.