09.12.2016 Salz & Pfeffer 4/2016

Blut geleckt

Text: Virginia Nolan – Fotos: Tina Sturzenegger
In der traditionellen Küche spielte der Lebenssaft der Tiere einst eine zentrale Rolle. Heute ist aus der wertvollen Zutat ein Abfallprodukt geworden. Jetzt sagen findige Jungköche dieser Verschwendung den Kampf an – und belohnen damit unseren Gaumen.
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«Blut eröffnet die fünfte Dimension des Geschmacks.»

Eine schwache Brise Meeresluft weht durch die Wohnküche einer Altbauwohnung im Zürcher Stadtkreis drei. Sie geht von den Miesmuscheln aus, die in der Hitze auf den Weisswein treffen. Vorher hat Margaretha Jüngling Frühlingszwiebeln, Dill und Petersilie in den Topf gegeben, wer auf Moules à la crème tippt, liegt gar nicht so falsch. «Es gibt sowas in der Art», sagt die Köchin, die nun aber nicht zum Rahm greift, sondern roten Saft aus einem Einmachglas in die Pfanne kippt: 100 Gramm frisches Schweineblut. Jüngling macht den Herd aus, denn Blut gerinnt schnell, und hat es einmal Klumpen gebildet, lässt sich nichts wiedergutmachen. Dann rührt sie ein paarmal, die Saucebindet rasch, sie nimmt einen dunklen Farbton an, der an Wildpfeffer erinnert.

«Es darf nicht zu krass sein»
Miesmuscheln mit Schweineblut? Für den wohlwollenden Geniesser klingt das nach einer abenteuerlichen Kombination, für den Skeptiker nach einer Herausforderung. Die Testesserin will das Urteil ihrem Gaumen überlassen – und ist überrascht. Das Gericht schmeckt würzig-herb, die Analogie zum Wildpfeffer drängt sich erneut auf, doch punkten die Blutmuscheln mit einer geschmacklichen Komplexität, die ihresgleichen sucht. Hier treffen zwei aufeinander, die das Beste im anderen hervorheben: Blut verstärkt den mineralischen Geschmack der Muscheln, diese wiederum mildern die metallische Note des roten Saftes. «Ich verwende Blut wie ein Gewürz», sagt Jüngling, «es soll Ingredienzen helfen, ihren vollen Geschmack zu entfalten.» Die 27-Jährige war bis vor kurzem Küchenchefin im «Stazione Paradiso», jetzt ist sie wieder in eigener Sache unterwegs, spannt unter anderem mit der Slow-Food-Gastronomin Laura Schälchli zusammen. Die Zürcherin hat sich mit Pop-up-Restaurants einen Namen gemacht, ihr Unternehmen Sobre Mesa steht für Begegnungen rund um Esskultur, will Genuss und Nachhaltigkeit verbinden. Dieser Tage hat Schälchli ihr Projekt «Blood for Food» lanciert, dazu gehören eine Internetplattform über das Kochen mit Blut, die Wissen vermitteln und zum Austausch anregen will, und Veranstaltungen zum Thema.

In einer neuen Serie von Tafelrunden, der «Bloody Spontaneous Cuisine», stellt Schälchli Blut als Lebensmittel ins Zentrum. «Nicht im Rahmen verrückter Spielereien», sagt die 34-Jährige, «sondern als kostbare Zutat aus der traditionellen Küche.» An der vergangenen Tafelrunde im April verpflichtete sie Margaretha Jüngling als Küchenchefin. Blut kam in besagtem Muschelgericht zum Zug, verfeinerte Polenta und Fladenbrot. Die Veranstaltung sei ein voller Erfolg gewesen, freut sich Jüngling, trotz oder vielleicht gerade wegen der ungewöhnlichen Zutat, die mit im Spiel gewesen sei. Gästen neue Geschmackswelten zu eröffnen, ohne sie zu vergraulen, bleibe im Fall des Blutes dennoch eine Herausforderung. «Es darf nicht zu krass sein», weiss Jüngling. «Nehmen wir Kinder als Beispiel: Sie mögen keinen Kaffee, aber sie lieben Milchschaum, der ganz leicht nach Kaffee schmeckt. So handhabe ich es mit Blut. Meine Gäste nehmen einen Hauch davon wahr.»

Richtig kombinieren 
Blut ist die Königsdisziplin der Nose-to-tail-Küche, die sämtliche Stücke des Tieres verwertet, von der Schnauze bis zum Schwanz, wie es der Begriff schon sagt. Geprägt hat ihn der englische Küchenchef Fergus Henderson mit seinem Standardwerk von 1999. Fast 20 Jahre später liegt der Ansatz bei kulinarischen Trendsettern wieder hoch im Kurs. Es war aber schon lange vor Henderson üblich, ein Tier mit allem Drum und Dran zu verspeisen. Davon zeugen Traditionsrezepte, deren Vielfalt über die altbekannte Blutwurst hinausgeht – früher kam Blut auch in Saucen, Eintöpfen, in salzigen Puddings und Süssspeisen zum Einsatz. «Dieses kulinarische Erbe will ich aufrechterhalten», sagt Schälchli. Und sie wolle ein Zeichen setzen gegen die Verschwendung eines wertvollen Lebensmittels. So fallen etwa bei der Schlachtung eines ausgewachsenen Schweins bis zu 4,5 Liter Blut an. Bestenfalls landet der Lebenssaft des Tieres, getrennt in Plasma und Serum, in Kosmetikprodukten, Tierfutter und Düngemitteln.

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«Blut ist das Symbol vollzogener Tötung, an die wir beim Essen von Tieren nicht denken mögen», sagt Elisabeth Paul. Nach dem Studium der Lebensmittelwissenschaften und Techniken der Tierproduktion in Schweden und Italien hat sich die Deutsche im «Nordic Food Lab», dem Testlabor des dänischen Starkochs René Redzepi, intensiv mit den Eigenschaften von Blut als Nahrungsmittel beschäftigt. In der Küche, sagt Paul, verlange Blut nach fachkundigen Händen, es vertrage wenig Hitze, klumpe schnell und halte sich nicht lange frisch. All dies, gepaart mit der zunehmenden Entfernung des Verbrauchers vom Fleischproduzenten, habe zum Niedergang von Blut als Lebensmittel geführt, das Wissen über den Umgang damit verwässert, den Lebenssaft zum Abfallprodukt degradiert. Dabei, sagt die 30-Jährige, gebe es gute Gründe, mit Blut zu kochen. Als Zutat richtig eingesetzt, sei es in der Lage, den Geschmack anderer Ingredienzen erst richtig zur Geltung zu bringen. Der leicht metallische und schwer gewöhnungsbedürftige Nachgeschmack, den wir wahrnehmen, wenn wir uns reflexartig eine frische Wunde lecken, ist allerdings auch tierischem Blut eigen; durch Säure, Fett und Gewürze, weiss Paul, lässt er sich mildern. Im Fall der norddeutschen Suppe Schwarzsauer etwa neutralisiere Essig den Eisengeschmack des Blutes, beim schwedischen Pfannkuchen Blodplättar führe die Zugabe von Sauerteig zu einer ausgewogenen Geschmacksnote. In Blutwurstrezepten sorgen süssliche Gewürze wie Zimt, Kardamom oder Nelken für den Ausgleich.

Effekthascherei vergrault Gäste
Nicht nur Ei, auch Blut lässt sich steif schlagen und verfügt über ähnliche Qualitäten als Bindemittel. Wer es aufschlägt, erhält einen glänzenden, fast pinkfarbenen Schaum. «Er ist dem Eischnee sehr ähnlich, aber dichter», sagt Paul, die sich diese Eigenschaft für ihre Dessertkreationen zunutze machte. Sie ersetzte Eier durch Schweineblut – «65 Gramm entsprechen einem grossen Ei» – und kreierte mit Blutschaum eine luftige Biskuitmasse für ihre Schwarzwälder Torte, sie schlug den roten Saft mit Waldmeister und Zucker auf und buk damit Meringues.

«Für mich ist Blut eine Zutat zur Verfeinerung der Fleischküche», sagt derweil Basil Nufer. Der Koch und Jäger prägte in Zürich verschiedene subkulturelle Projekte kulinarisch und wird ab August im «Spitz», dem neu eröffneten Restaurant im Landesmuseum, als Küchenchef das Zepter führen. Der 35-Jährige begrüsst die Wiederentdeckung des Blutes, moniert aber, dass Experimente damit schnell in Effekthascherei kippten. Von kulinarischer Sensationslust sei abzuraten, sie vergraule die Gäste. «Blut soll kein Hauptgeschmacksträger sein», findet Nufer, «sondern für ein harmonisches Gesamtergebnis sorgen.» Aus dem Stegreif nach neuen Ideen gefragt, beginnt er laut zu denken: Wie wäre es mit einer Farce aus Kalbfleisch, Schweineblut und Doppelrahm? «Ich würde sie mit getrockneten Aprikosenstücken anreichern und nach dem Backen auf einem Spiegel aus eingekochter Apfelsauce anrichten.» In den Aprikosen, sagt Nufer, spiegle sich die leichte Süsse des Blutes, während die Säure des Apfels seinen mineralischen Geschmack auffange. «Man kann als Koch mit Gegensätzen arbeiten», sagt Nufer, «ich versuche eher, durch Gemeinsamkeiten Akzente zu setzen.»

Was Blut mit unseren Sinnen macht
In der richtigen Kombination, beteuern die Verfechter der Blutküche, führe der Lebenssaft zu einem Gaumenerlebnis, das ihn als Zutat unvergleichlich mache: Blut eröffne uns, sagt Nufer, die fünfte Dimension des Geschmackssinnes, Umami, die wir als vollmundig-fleischig wahrnehmen. «Es ist Glutaminsäure, ein bestimmter Typ von Aminosäure, die uns dieses Geschmackserlebnis beschert», sagt Physiker Thomas Vilgis. Er ist Forscher am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz, schreibt aber auch Kochbücher, in denen er sich mit der Physik und Chemie von Lebensmitteln beschäftigt. «Als Proteinbaustein kommt Glutaminsäure in Blut und Gewebe vor», sagt Vilgis, «sowohl beim Menschen als auch beim Tier, und sie enthält einen natürlichen Geschmacksauslöser für Umami, der auch im Glutamat, dem Salz der Glutaminsäure, vorkommt.» Im Zuge der Verdauung «schneide» die Bauchspeicheldrüse Proteine auseinander, bevor sie ins Blut der Tiere übergingen, wo Geschmacksmoleküle dann frei gelöst anzutreffen seien. Im Fleisch seien die Geschmacksstoffe dagegen gebunden. «Um sie herauslösen und schmecken zu können, müssen wir das Fleisch zuerst mit Hitze bearbeiten», sagt Vilgis, «und zwar möglichst lange auf kleiner Stufe.» Darum schmecke Tatar ohne Beigaben langweilig, auch ein Steak komme nie an die geschmackliche Intensität eines lange geschmorten Schulterstücks heran – und erst recht nicht an die aromatische Vielfalt des Blutes. «Blut fordert uns in der Küche etwas hinaus», weiss Vilgis, «dafür belohnt es uns mit unglaublichen Geschmäckern.»

Informationen für Gastronomen und Geniesser: 
www.sobre-mesa.com/bloodforfood