«Blut eröffnet die fünfte Dimension des Geschmacks.»
Eine schwache Brise Meeresluft weht durch die Wohnküche einer Altbauwohnung im Zürcher Stadtkreis drei. Sie geht von den Miesmuscheln aus, die in der Hitze auf den Weisswein treffen. Vorher hat Margaretha Jüngling Frühlingszwiebeln, Dill und Petersilie in den Topf gegeben, wer auf Moules à la crème tippt, liegt gar nicht so falsch. «Es gibt sowas in der Art», sagt die Köchin, die nun aber nicht zum Rahm greift, sondern roten Saft aus einem Einmachglas in die Pfanne kippt: 100 Gramm frisches Schweineblut. Jüngling macht den Herd aus, denn Blut gerinnt schnell, und hat es einmal Klumpen gebildet, lässt sich nichts wiedergutmachen. Dann rührt sie ein paarmal, die Saucebindet rasch, sie nimmt einen dunklen Farbton an, der an Wildpfeffer erinnert.
«Es darf nicht zu krass sein»
Miesmuscheln mit Schweineblut? Für den wohlwollenden Geniesser klingt das nach einer abenteuerlichen Kombination, für den Skeptiker nach einer Herausforderung. Die Testesserin will das Urteil ihrem Gaumen überlassen – und ist überrascht. Das Gericht schmeckt würzig-herb, die Analogie zum Wildpfeffer drängt sich erneut auf, doch punkten die Blutmuscheln mit einer geschmacklichen Komplexität, die ihresgleichen sucht. Hier treffen zwei aufeinander, die das Beste im anderen hervorheben: Blut verstärkt den mineralischen Geschmack der Muscheln, diese wiederum mildern die metallische Note des roten Saftes. «Ich verwende Blut wie ein Gewürz», sagt Jüngling, «es soll Ingredienzen helfen, ihren vollen Geschmack zu entfalten.» Die 27-Jährige war bis vor kurzem Küchenchefin im «Stazione Paradiso», jetzt ist sie wieder in eigener Sache unterwegs, spannt unter anderem mit der Slow-Food-Gastronomin Laura Schälchli zusammen. Die Zürcherin hat sich mit Pop-up-Restaurants einen Namen gemacht, ihr Unternehmen Sobre Mesa steht für Begegnungen rund um Esskultur, will Genuss und Nachhaltigkeit verbinden. Dieser Tage hat Schälchli ihr Projekt «Blood for Food» lanciert, dazu gehören eine Internetplattform über das Kochen mit Blut, die Wissen vermitteln und zum Austausch anregen will, und Veranstaltungen zum Thema.
In einer neuen Serie von Tafelrunden, der «Bloody Spontaneous Cuisine», stellt Schälchli Blut als Lebensmittel ins Zentrum. «Nicht im Rahmen verrückter Spielereien», sagt die 34-Jährige, «sondern als kostbare Zutat aus der traditionellen Küche.» An der vergangenen Tafelrunde im April verpflichtete sie Margaretha Jüngling als Küchenchefin. Blut kam in besagtem Muschelgericht zum Zug, verfeinerte Polenta und Fladenbrot. Die Veranstaltung sei ein voller Erfolg gewesen, freut sich Jüngling, trotz oder vielleicht gerade wegen der ungewöhnlichen Zutat, die mit im Spiel gewesen sei. Gästen neue Geschmackswelten zu eröffnen, ohne sie zu vergraulen, bleibe im Fall des Blutes dennoch eine Herausforderung. «Es darf nicht zu krass sein», weiss Jüngling. «Nehmen wir Kinder als Beispiel: Sie mögen keinen Kaffee, aber sie lieben Milchschaum, der ganz leicht nach Kaffee schmeckt. So handhabe ich es mit Blut. Meine Gäste nehmen einen Hauch davon wahr.»
Richtig kombinieren
Blut ist die Königsdisziplin der Nose-to-tail-Küche, die sämtliche Stücke des Tieres verwertet, von der Schnauze bis zum Schwanz, wie es der Begriff schon sagt. Geprägt hat ihn der englische Küchenchef Fergus Henderson mit seinem Standardwerk von 1999. Fast 20 Jahre später liegt der Ansatz bei kulinarischen Trendsettern wieder hoch im Kurs. Es war aber schon lange vor Henderson üblich, ein Tier mit allem Drum und Dran zu verspeisen. Davon zeugen Traditionsrezepte, deren Vielfalt über die altbekannte Blutwurst hinausgeht – früher kam Blut auch in Saucen, Eintöpfen, in salzigen Puddings und Süssspeisen zum Einsatz. «Dieses kulinarische Erbe will ich aufrechterhalten», sagt Schälchli. Und sie wolle ein Zeichen setzen gegen die Verschwendung eines wertvollen Lebensmittels. So fallen etwa bei der Schlachtung eines ausgewachsenen Schweins bis zu 4,5 Liter Blut an. Bestenfalls landet der Lebenssaft des Tieres, getrennt in Plasma und Serum, in Kosmetikprodukten, Tierfutter und Düngemitteln.