«Die Pflanzen sind mehr sich selbst überlassen, müssen die Nährstoffe selber aus dem Boden holen.»
Die intensive Säure kommt mit dem ersten Biss. Beim zweiten wird es süsser, und das zarte Aroma erinnert erst an Apfel, dann an Zitrone und ein wenig an frisches Gras. Die Form ist verblüffend: Ist dieser pralle, sattrote Tropfen wirklich eine Johannisbeere? «Ja, diese ausgeprägte Tropfenform findet man vermutlich nur bei dieser Sorte. Sie wurde 1875 in Riga gezüchtet und galt lange als verschollen, bis wir sie kürzlich mit Hilfe tschechischer Fachliteratur bestimmen konnten», sagt Claudio Niggli.
Der Biologe ist Projektleiter Beeren bei der Stiftung Pro Specie Rara (PSR), die sich seit über 30 Jahren für die Erhaltung von raren, vom Aussterben bedrohten Nutztierrassen und Kulturpflanzen einsetzt. An diesem heissen Julinachmittag gibt Niggli einen Einblick in die Nationale Beerensammlung der Stiftung, in der in einem Schaugarten im baslerischen Riehen 300 Sorten zugänglich sind – wie die Göggingers Birnenförmige alles Rare, Alte oder als verschwunden Geglaubte, was die etwas versteckte Parzelle am Rande eines Wohnquartiers wortwörtlich zu einem Beerenfeld der spezielleren Art macht.
Seit 1997 werden hier Pflanzen von verschiedenen Quellen (die Hälfte davon sind private Gärten) zusammengetragen, systematisch beobachtet, beschrieben und erfasst. Wie stark wächst eine Pflanze? Wie sehen ihre Blüten aus? Wann sind die Früchte mit welchem Ertrag reif – und wie schmecken sie? Die Antworten auf solche Fragen sollen helfen, ein möglichst umfassendes Bild der alten Sorten und wichtige Erkenntnisse für deren Anbau und Nutzung zu gewinnen.
Dabei sichert das Team um Claudio Niggli und Martin Frei als Sammlungsbetreuer vor allem einheimische und ausländische Sorten von Beerengruppen ab, die seit den ersten Kultivierungen in der Schweiz traditionell angebaut wurden. Heidelbeeren findet man in Riehen deshalb keine, dafür über 50 Jahre alte Stachel- und Johannisbeerensorten. Bei den Erdbeeren, Himbeeren und Brombeeren liegt die Richtlinie bei 30 Jahren, weil sich diese schneller züchten lassen und ihr Kulturzyklus kürzer ist.
Beeren boomen: Laut dem Schweizer Obstverband Swissfruit steigt die Nachfrage seit Jahren kontinuierlich, was sich auch an den Anbauflächen zeigt. 860 Hektaren Erd- und Strauchbeeren wurden heuer landesweit angebaut, 2016 waren es noch 826 Hektaren. Besonders gross ist der Appetit auf Erd- und Himbeeren, für dessen Stillung trotz wachsendem heimischem Angebot eingeführte Produkte eine wichtige Rolle spielen: 2017 stand dem Ertrag von rund 5900 Tonnen Schweizer Erdbeeren ein Importvolumen von etwa 14 500 Tonnen gegenüber – vor allem von ertragreichen Standardsorten.
Vor diesem Hintergrund bespielt Pro Specie Rara mit ihrem Fokus auf frei zugängliche Sortenvielfalt, Traditionswahrung und Rarität eine alternative, nicht zuletzt für Köche und Gastronomen spannende Nische: «Mit mehr Sortenvielfalt entsteht auch eine grössere aromatische und visuelle Bandbreite. Ausserdem ist bei alten Sorten die Konzentration an Geschmacksstoffen und gesunden sekundären Pflanzenstoffen im Schnitt höher», sagt Niggli. Das habe einerseits damit zu tun, dass sie oft nicht mit dem Ziel der Massenproduktion gezüchtet wurden.
«Ertragsmaximierung bedeutet bis zu einem gewissen Grad auch eine Verwässerung der Inhaltsstoffe», so der Biologe. Andererseits würden alte Sorten eher in kleineren Kulturen angebaut, die nicht ständig bewässert und gedüngt würden. «Die Pflanzen sind mehr sich selbst überlassen, müssen die Nährstoffe selber aus dem Boden holen, und der Ertrag wird gehaltvoller.»