«Sechs Austern vom Utah Beach der Normandie kosten hier 21 Euro und damit weniger als in einem drittklassigen Bistro in Zürich.»
Es ist genau 18.56 Uhr, und es sind tatsächlich noch Tische frei in der Bar Joséphine. Wenn man den Habitués zuhört, ist dies allerdings eine gewaltige Ausnahme, einzig und allein wohl der Tatsache zuzuschreiben, dass es sich um einen Dienstag im Januar handelt, der mit mässigem Wetter nicht unbedingt zum Ausgehen einlädt. An anderen Tagen müssen selbst Stammkunden warten, falls sie keinen Platz reserviert haben. Die Joséphine ist schliesslich mehr als eine Bar, sie ist eine Institution. Jedenfalls seit etwas mehr als eineinhalb Jahren. Damals eröffnete das Lutetia im lebendigen sechsten Arrondissement, eines von Paris berühmtesten Hotels, nach vier Jahre andauernder Renovation neu.
Der Architekt Jean-Michel Wilmotte liess den Salon Borghese restaurieren und machte den Frühstücksraum zur Bar. Das Management wiederum sorgte für Barhocker, auf denen der Gast wunderbar bequem sitzt, engagierte Jazzmusiker und setzte fürs Personal vermutlich einen Wettbewerb «Frankreich sucht den Superkellner» an. Wie sonst hätte man so höfliche, motivierte, diskrete Mitarbeiter finden können? Die auch noch zu strahlen beginnen, wenn man sie nach Champagner der Sorte Taittinger fragt. Nicht nach irgendeinem, sondern nach dem besonderen. Den extra brut – im Moment ein 2008er – kann man anderswo nicht kaufen, sondern ausschliesslich an Ort und Stelle trinken. 24 Euro das Glas, aber dafür gibt es auch allerlei Knabbereien. Angeblich erhalten selbst auf die Knie sinkende Gäste eine Absage, wenn sie versuchen, dem Personal ein paar Flaschen für zu Hause abzuluchsen.
Apropos Taittinger und Champagner. Es sind nur drei Steinwürfe vom Lutetia, dem 1910 fertiggestellten Luxushotel, bis zur École Ferrandi. Menschen aus aller Welt kochen und richten heute hier an, um einer Jury zu gefallen. Taittinger, das Champagnerhaus, hat wie jedes Jahr zum Prix culinaire geladen. Ein paar der Gäste logieren im Lutetia, ein paar andere kommen vor dem Galamenü, bei dem der Preisträger verkündet wird, wenigstens zum Apéro vorbei. Das mit Jugendstil prunkende Hotel gehört zwar seit 2005 nicht mehr zum Taittinger-Konzern, aber die Verbundenheit ist immer noch da. Dass man schneller einen Tisch in der Bar bekomme, wenn man vorher Vitalie Taittinger, die neue Chefin, anrufe, entpuppt sich allerdings als blosses Gerücht.
Ob es noch ein zweites Glas Champagner sein dürfe, fragt der Kellner. Er lächelt gerade so viel, dass es nicht aufdringlich wirkt, und sieht im Übrigen aus, als wäre sein Anzug massgeschneidert und er selbst ein berühmter Sänger, der nur so tut, als sei er Kellner. Aber heute nicht, vielen Dank. Auch kein Sashimi, keine Lachsrillettes, kein High-End-Barfood. Lieber noch ein letzter Blick auf die Fresken, in deren Freilegung der neue Besitzer angeblich 17 000 Arbeitsstunden und Millionen von Euro investiert hat.