Was in Berlin ein Klacks sein mag, ist in Werder noch eine Herkulesaufgabe.
Die Gäste kommen unangemeldet. Vier Personen setzen sich am Samstagmittag in den kleinen Gastraum des Restaurants Fritz am Markt in Werder (Havel), studieren die Speisekarte und lauschen den fröhlichen Erläuterungen von Serviceleiter Marc Hedt. Klarstellungen sind auch nötig, denn was sich unter Speisen wie «Bauchfrei», «Ich sehe rot» und «Mach mich spitz» verbirgt, wissen nicht einmal die erfahrensten Foodies. Dass die Portionen kleiner sind als die üblichen Hauptgerichte, wird ebenfalls gesagt. Man empfiehlt zu teilen, zu zweit erst mal drei Gerichte zu bestellen und dann bei Bedarf nachzulegen. Darauf muss man sich einlassen.
Wie das mit dem Einlassen funktioniert, hat während nun sieben Jahren auch der Sommelier und Gastronom Billy Wagner herausgearbeitet und -gefunden. Das Enfant terrible der deutschen Restaurantlandschaft, das mit Küchenchef Micha Schäfer 2015 in Berlin-Kreuzberg ein etwas anderes Lokal eröffnete, versteht sich aufs Provozieren. Mögen ihm manche allzu heftige Schaumschlägerei und einen Hang zur Selbstdarstellung vorwerfen, so hat er doch geschafft, was vielen von Michelin und Co. höher bewerteten Kollegen und Kolleginnen verwehrt blieb. Auf der Liste der 50 Best Restaurants rangiert sein Nobelhart & Schmutzig auf Position 17 und folglich unter den angesagtesten Lokalen der Welt. Manche Gäste, darunter viele von ausserhalb Deutschlands, kommen Jahr für Jahr aufs Neue.
Klärungsbedarf gibt es trotzdem. Warum sie denn für acht zahlen müssten, wenn die Gruppe doch nur zu siebt gekommen sei, fragt gerade einer. Die Kellnerin fragt den Chef, der Chef macht klar. Reserviert ist reserviert. Und das heisst: Es wird gezahlt. Muss man sich trauen. Beim Thema der Handynutzung ist Wagner dagegen weniger streng als kolportiert. Wenn einer ein Foto macht, vom Essen, wird er deshalb nicht rausgeschmissen – auch wenn dem Chef lieber wäre, wenn sich die Gäste live mit dem Essen oder miteinander beschäftigten. Als einer der wenigen Wirte in Deutschland hat Wagner zudem die Preise nach Auslastung gestaffelt. Am Wochenende zahlt man mehr fürs Menü als sonst. Logisch eigentlich. Nachhaltigkeit bedeutet fürs Nobelhart & Schmutzig auch, dass man mit den Produzentinnen und Produzenten der Umgebung zusammenarbeitet. «Brutal lokal», nennt man das hier.
Was in Berlin ein Klacks sein mag, ist in Werder noch eine Herkulesaufgabe. Mit der S-Bahn braucht man eine gute halbe Stunde bis ins idyllische Brandenburger Städtchen. Christian Heymer, der in Thüringen aufgewachsene Küchenchef des Fritz am Markt, das auch über hübsche Zimmer verfügt, setzt um und ergänzt, was sich Gründer und Hotelier Friedrich W. Niemann am Anfang ausgedacht hat.
Das bedeutet, dass sich Heymer am Morgen erst mal auf die Socken macht und einkauft, was die Erzeuger und Erzeugerinnen im Umkreis von 15 Kilometern vorrätig haben. Brot von Müseler aus dem Nachbarort. Fisch von Kühn, einem der Havelfischer. Topinambur, Knollenziest und Walnüsse. Heymer kennt seine Quellen und sucht immer neue. Weil das Fritz nur ein paar Tische hat, kann er improvisieren, die Karte nach Lust und Laune gestalten, auch mit kleinen Mengen Grosses anfangen. Mal Aal, der rar geworden ist und den es deshalb nicht immer geben kann, mal Zander oder Hecht. Kein Steinbutt, ist ja klar. Und Fleisch eher als
Anspielung namens Gulaschsaft denn als dickes Steak. Warum auch zu viel Tierisches, wenn man mit Sellerie arbeiten kann, mit geräucherten Haselnüssen, mit schwarzen Linsen oder, beim Dessert, mit Mais in Texturen, der durch schwarze Johannisbeeren kontrastiert wird. Brandenburger Tapas nennen Heymer und Niemann das, was am Schluss rauskommt. Den Hashtag #radikalregional fügen sie vorsichtshalber bei, damit alle wissen, woran sie sind. Nur bei den Getränken machen sie die eine oder andere Ausnahme. Wein aus Brandenburg – ja, den gibt es, dem Klimawandel sei Dank –, naturtrüben Apfelmost und Berliner Weisse, aber auch ein paar Weine aus anderen deutschen Anbaugebieten und sogar einen Champagner. Man will ja nicht dogmatisch werden.