«Der Cervelat ist die verwurstete Identität des Schweizers.»
Beginnen wir mit der grössten Zahl: 160 Millionen. So viele Cervelats werden hierzulande jährlich verkauft. Potzblitz! Das macht zirka 20 Stück pro Einwohner, wobei die Statistik nichts darüber aussagt, wer genau die Würste am Ende isst. Sicher ist: Der Cervelat ist des Schweizers Liebling: kein Volksfest ohne ihn, kein Schulreisli, keine Gartenparty. Wir schmeissen ihn auf den Grill oder spiessen ihn (an den Enden kreuzweise eingeschnitten) auf einen Stock, um ihn übers Feuer zu halten. Wir vertilgen ihn roh mit Senf und Brot oder schnetzeln ihn in den Salat. Wir füllen ihn mit Käse und umwickeln ihn mit Speck zum Arbeiter-Cordon-bleu oder kochen ihn in Tomatensauce zur helvetischen Gulaschvariante. Ja, der Cervelat, in Basel «Chlöpfer», in St. Gallen «Stumpen» genannt, ist die verwurstete Identität des Schweizers: Er ist Volkes Nahrung und Volkes Seele. Zu viel Pathos, meinen Sie? Wir übertreiben? Blättern Sie in «Cervelat – die Schweizer Nationalwurst» und Sie werden erkennen, wie viel im «Büezerkotelett » tatsächlich steckt.
Stichwort Inhalt: 27 Prozent mageres Rindfleisch, 10 Prozent Schweinefleisch, 20 Prozent Wurstspeck, 15 Prozent Schwartenblock, 23 Prozent Eiswasser: So lauten die (nicht verbindlichen) Mengenangaben für den Cervelat. Vorgeschrieben ist in der Lebensmittelverordnung indes, wie viel Muskelfleisch für die heissgeräucherte Brühwurst in die Pelle muss: 30 Prozent. Generell gilt ein hoher Fleischanteil (ab 45 Prozent) als Qualitätsmerkmal, genau wie die Bissfestigkeit oder die Verwendung von frischem (also nicht tiefgekühltem) Fleisch.
Das betont zum Beispiel Urs Keller von der Metzgerei Keller in Zürich-Wiedikon. Dem Traditionsbetrieb, der auch die Schweizer Gastronomie beliefert, eilt seit Generationen ein guter Ruf voraus. «Das Fleisch für den Cervelat muss mager und frisch sein, das ist neben einer ausgewogenen Gewürzrezeptur das Wichtigste», sagt er. Keller achtet darauf, täglich zu produzieren: «Dafür muss der Absatz stimmen.» Der Metzger beklagt sich nicht; Wurstwaren lägen generell im Trend, sagt er, «wie noch nie» sogar. Das zeigt sich bei ihm im regen Interesse an Kursen zur Wurstherstellung. Beim effektiven Cervelat-Absatz registriert Keller seit einigen Jahren einen leichten Rückgang. Seine Erklärung: Die Wurstvielfalt hat zugenommen. «Das wirkt sich aufs einzelne Produkt aus.» In Giswil, bei Peter von Moos vom gleichnamigen Metzgereibetrieb, klingt es etwas anders: «Mein Cervelat-Absatz ist seit Jahren konstant», sagt der Fleischfachmann, für den «eine gute Wurst das Aushängeschild einer Metzgerei» ist. Von Moos führt den Obwaldner Betrieb seit 1981, in dritter Generation. Im Allgemeinen, sagt er, sei das Marktumfeld für eine Metzgerei schwieriger geworden. «Aber meinen Cervelat, den kennt und will man.» Immerhin räumte genau der schon mehrfach Preise im In- und Ausland ab. Von Moos stellt seinen Cervelat bewusst nach Familienrezept in einem alten Räucherofen her. «Die Fertigung ist etwas komplizierter als in einer modernen, schnellen Anlage», sagt er, «aber das Aroma fällt dafür intensiver aus.»
Welche Gewürze in seiner Rezeptur eine Rolle spielen, will der sympathische Metzger partout nicht verraten. «Manche Sachen soll man für sich behalten», sagt er – und bleibt konsequent. Auch Kollege Keller aus Zürich lässt sich da nicht in die Karten blicken: «Die Ausgewogenheit muss stimmen», sagt er zum Thema Rezeptur, und dass er die Würze für seinen Cervelat den modernen Gaumengewohnheiten anpasse. «Heute wird eher rezent gegessen, und wir halten den Salzgehalt möglichst tief.» Das kommt gut an: Unlängst gewann auch der Cervelat aus Wiedikon die Goldmedaille. Konkretes zur Cervelat-Würze packt dann Josef Niedermann aus. Er amtet als Metzgermeister, Fachberater und Produktinnovator bei der Pacovis AG in Stetten, die in der Schweiz als Zulieferin für Gewürze, Hilfsstoffe und Komplettmischungen unter anderem für die Fleischbranche marktführend ist. Zuallererst, sagt Niedermann, gehört in einen Cervelat Pfeffer. Dazu kommen Muskat, Zwiebel und Koriander, manchmal auch etwas Kardamom. Die einschlägige Literatur berichtet weiter von Knoblauch und Nelken. Entscheidend ist: «Sowohl in Metzgereien wie auch in der Industrie wird mit individuell abgestimmten Rezepturen gearbeitet.» Entsprechend produziert Pacovis an die 60 verschiedene Cervelat-Mischungen, von der blossen Gewürzmischung bis zur Komplettvariante, die auch Zusatzstoffe wie Phosphate, Zucker und Umrötehilfen enthält.
Spannend ist hier ein historischer Exkurs. Die älteste bekannte Anleitung für «zerwùlawirstlach » stammt aus dem 16. Jahr- hundert und sieht für die Wurstmasse neben Schweinefleisch, Speck und Käse allerlei teure, exotische Zutaten (inklusive Safran zum Färben) vor. Auch der «Servella», wie er im ersten Schweizer Rezept im «Bernerischen Koch-Büchlein » von 1749 beschrieben ist, basiert auf Schweinefleisch. Es war damals teurer als Fleisch vom Rind – und machte den Cervelat zur Festtagswurst. Zur Alltagswurst avancierte er vor rund 200 Jahren, als der Fleischwolf es ermöglichte, nicht nur ein feineres Brät herzustellen, sondern eben auch viel mehr davon.
Und heute? Als «Universalwurst» loben sie den Cervelat alle, die Metzger und Experten, und schwärmen von seiner Vielseitigkeit. Hier kommt schliesslich auch Beat Caduff vom Zürcher «Caduff ’s Wine Loft» ins Spiel. Der 15-Punkte-Koch steuerte zum Cervelat- Buch 25 Rezepte bei, in denen es um die Wurst geht. Was einen guten Cervelat ausmacht? «Da führt kein Weg an einer Metzgerei vorbei, in der mit Freude gewurstet wird», sagt er. Was zählt, sind ein gutes Grundprodukt (namentlich frisches Fleisch), sauberes Arbeiten und eben Leidenschaft. Dann entsteht eine Wurst, deren Einsatzmöglichkeiten schier unbegrenzt sind: Caduff macht aus der geräucherten Brühwurst eine Jägersuppe, verwendet sie als Zutat für eine Tessiner Polenta, brutzelt eine Cervelat- Rösti und kreiert sogar einen Brotaufstrich. Er kombiniert den Cervelat aber auch mit Spargeln, Trüffeln und Morcheln. Sein Fazit: «Wo mit geräuchertem Speck gearbeitet wird, lässt sich auch der Cervelat verwenden – wenn auch das Aroma etwas weniger intensiv ausfällt.» Caduff sieht das Potenzial der Brühwurst in der Gastronomie nicht ausgeschöpft: «Auf der währschaften Schiene», sagt er, «kann man damit viel Tolles machen – und zwar über den Wurst-Käse-Salat hinaus.»