10.10.2024 Salz & Pfeffer 5/2024

Der Ausstrahle-Mann

Text: Hans Georg Hildebrandt – Fotos: z. V. g.
Das Essen im Kopenhagener Alchemist soll nicht nur leicht verdaulich sein. Dafür sorgt mit Rasmus Munk ein Superstarchef, der schlicht «ganzheitlich arbeiten» will.
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Das theatralische Erlebnis eines Dinners im Kopenhagener Alchemist ist in mehr als einer Hinsicht überwältigend. Nur schon einen Platz zu ergattern, gleicht einem Hindernislauf und beschäftigt Kulinarikfreaks über Wochen. Denn die Plätze werden in Form von Tickets verkauft – und diese alle drei Monate online geschaltet. Ausverkauft sind sie jeweils innerhalb von wenigen Minuten. Die Warteliste umfasst eine runde Million hungriger und zahlungskräftiger Menschen: Das Ticket für den Abend kostet ohne Getränke rund 800 Franken.

Steht man dann endlich vor der überhohen, mit einer tonnenschweren Bronzeskulptur geschmückten Türe, ist man also auf einiges gefasst. Man wird zunächst durch ein digitales Kunstlabyrinth geleitet, in dem ikonische Fotos weltberühmter Menschen gezeigt werden, denen eine Software das Gesicht des Gastes aufzaubert. Man findet sich also in einem dunklen Raum als Charlie Chaplin oder Greta Thunberg wieder. Die Idee für die Instal- lation stammt von Alchemist-Gründer und Küchenchef Rasmus Munk selbst und hat verschiedene Ebenen der Aussage. Eine ist sicher: Du bist heute als Gast im Mittelpunkt, aber denk daran, dass der (digitalen) Welt nicht zu trauen ist.

Das Essen beginnt mit einem Pisco Sour, der sphärifiziert in einem metallenen Gänseblümchen gereicht wird. Man befindet sich für die ersten Snacks in einer eleganten Lounge und hat beim Wegknuspern der hervorragend zubereiteten Leckereien freien Blick in die Testküche. Hier wird tagsüber an neuen Kreationen geforscht. Wie meine nette Bedienung verrät, können nur sechs der rund 35 Köchinnen und Köche im Haus das kleine Omelett-Häppchen aus Eigelb zubereiten, dem sie zu- nächst eine Füllung aus Comté-Käse verpassen, um anschliessend das Einspritzloch mit einer hauchfeinen Scheibe Lardo zu verschliessen. Die Raffinesse und Ästhetik gibt den Ton für den ganzen Abend vor.

Es fällt auch bereits auf, dass Munk gern mundfüllende Portionen reicht. Ich werde mich noch mehrmals während des Abends fragen, wie zaghaftere Esserinnen oder Esser mit den oft happigen Happen zurechtkommen, die teils innen flüssig sind. Spätestens bei einem grosszügig fettigen, aber auch knusprigen «Luftbrot» aus Kartoffelstärke, dem eine Rosenform aus ebenfalls schmelzendem Joselito-Schinken aufgesetzt ist, merkt man: Das hat System. Munk geht gern an die Grenzen des Mach-, aber auch Essbaren.

Munk ist keiner der Sternechefs, die sich nur noch gelegentlich in ihrem Lokal zeigen. Er begleitet das Dinner den ganzen Abend hindurch und erklärt abwechselnd den Gästen einzelne Darreichungen. Dabei kann er sich den Speisenden auf Augenhöhe nähern, weil diese sämtlich an zwei verwinkelten Bars sitzen, die zusammen 52 Plätze bieten. Wir befinden uns nun im Hauptlokal, einer 20 Meter hohen Kuppel, die dem Planetarium gleicht, das Munk in seiner Kindheit als eines von wenigen erinnernswerten Erlebnissen beeindruckte. Nichts deutete damals darauf hin, dass der sympathische und auf den ersten Blick durchschnittlich wirkende Däne ein so verrücktes Projekt aufziehen und in der Kulinarikszene Weltruhm erlangen würde. Befindet man sich aber in seiner Nähe, spürt man ein geradezu übermenschliches Mitteilungsbedürfnis und echtes Interesse am Gesprächspartner.

Munk trifft Munch: die Kuppel in den Farben des berühmten Gemäldes «Der Schrei»
Munk trifft Munch: die Kuppel in den Farben des berühmten Gemäldes «Der Schrei»
Space Bread
Space Bread
Burnout Chicken
Burnout Chicken
Sammeltrieb: die Duftbibliothek in der Testküche des Alchemist
Sammeltrieb: die Duftbibliothek in der Testküche des Alchemist
Food For Thought
Food For Thought
Perfect Omelet
Perfect Omelet

Ein bisschen gemahnt Munks Story an die des legendären britischen Kochbuchautors Nigel Slater, dessen Karriere ebenfalls von kulinarischer Vernachlässigung im Elternhaus angetrieben wurde. Aber wie er auf Nachfrage sagt, ist Munk zu jung, um Slater zu kennen – auch das legendäre El Bullí von Ferrán Adriá war schon geschlossen, als der Däne der Berufung in die Küche folgte. Munks Arbeit umfasst übrigens viel mehr als nur das Kochen für reiche Leute, denen es an der Bar gerne auch einmal ein bisschen langweilig wird, obwohl die Kuppel den ganzen Abend ein reiches visuelles Programm bietet. Seine Gästeschar setzt sich aus Menschen jeglicher Herkunft zusammen, die teils auch ihren ersten Lohn ins Alchemist-Dinner investieren. Unter dem Titel Junk Food hat Munk ein Lebensmittel-Versorgungsprogramm für Obdachlose ins Leben gerufen, er befasst sich mit verbesserten Menüs für Kinderspitäler und hat zuletzt das Institut Spora (für Spore, also den «Samen» der Pilze) gegründet. Dessen Räumlichkeiten liegen nur 300 Meter vom Restaurant entfernt, und derzeit wird dort zum Beispiel an nachhaltigeren Möglichkeiten der Schokoladenherstellung geforscht.

Die Abfolge von Gerichten geht derweil ihren Gang nach einem äusserst präzise getakteten Plan. Wie man später auf einer kurzen Führung durch die Küche sehen wird, ist das Menü für jede Gruppe mit jedem Gast und seinen sämtlichen Allergien und Sonderwünschen auf dem Planungsinstrument Trello eingetragen, was wiederum auf einem riesigen flachliegenden Touchscreen abgebildet wird. Es würde zu weit führen, die einzelnen Gänge und die Gedanken dahinter hier aufzuführen. Mit dem Gang Plastic Fantastic beispielsweise wird offen der nachlässige Umgang des Menschen mit seiner Umwelt und damit seiner Lebensgrundlage kritisiert: Man verspeist einen durchsichtigen, lackierten Reisteig, der aussieht wie Plastik; darin ist eine Füllung aus Weissfisch, gewürzt mit einem Essig, wie man ihn aus billigen Fish-and-Chips-Restaurants in England kennt. Der Plastik bleibt lästig an den Lippen kleben, der Essig ist etwas zu sauer – nein, das ist kein «leckeres» Gericht, sondern ein sarkastischer Hinweis auf den Missbrauch der Meere als «kostenlose» Lebensmittelquelle plus Abfallhalde. Es geht auch weniger bedeutungsvoll und von der US-Küche inspiriert: Ein Maiskolben, geformt aus Stärke und frittiert, gefüllt mit einer Art Analog-Käse, ist bloss als gedankliche Gaumenreinigung da, er erinnert an die veganen Frischkäse-Jalapeños, die man am Buffet von Tibits findet. Der Gang Free the Chicken ist dann wieder nur halb spassig zu verstehen, und man legt das abgenagte Hühnerbein zurück in seinen Käfig, als schüttelte man ihm zum Abschied die Hand. Oben in der Kuppel, die den ganzen Abend lang mit eigens hergestellten Visuals bespielt wird, türmen sich die Hühnerbatteriekäfige.

Natürlich gibt es himmlisch genussvolle Momente im Verlauf des Menüs, denn Munk will überhaupt nicht ermahnen oder belehren, nur einfach ganzheitlich arbeiten. Also überraschen und anregen, auch wenn es sehr deliziös ist, wie beim Duo von Lammhirn-Macaron mit einer Lammhirn-Hühnerleber-Praline: Das Gericht wird in der geöffneten Schädeldecke aus Plastik gereicht. Hier wird endgültig klar, dass Andoni Aduriz vom gefeierten, aber auch recht umstrittenen Lokal Mu- garitz bei San Sebastián im Baskenland einen der wichtigeren Einflüsse für Munk darstellt. Wie sich das für den konventionellen Esser und die konventionelle Esserin anfühlt, liest man am besten auf Julien Walthers Blog Trois Etoiles nach.

Der Abend endet in einer weiteren Lounge, die über der Rundung der Kuppel installiert ist und von der aus man die alte, ausgediente Schiffbauhalle in ihrer stählernen Nacktheit erleben kann. Hier serviert der Sommelier kräftige Rums und man trinkt mehrere Aufgüsse eines Tees von unglaublich seltenen, steinalten Bäumen in China, deren Blüten vor fünf Jahren zu einem duftenden Kuchen zusammengebacken wurden.

An Kopenhagen und seine lärmigen Strassen, an den Weg hinaus ins alte Industriegebiet hat man nicht mehr gedacht, seit man durch die schwere Tür gegangen ist. Beim Heraustreten ist die Abendluft kühl, der Asphalt rauh, und man erwacht aus einem Traum, den jemand anders für einen geträumt hat.