27.08.2024 Salz & Pfeffer 4/2024

Der Duft von Meer

Text: Wolfgang Fassbender – Fotos: z. V. g.
Nachdem der Niederländer Jeroen Achtien in der Schweiz zum Star geworden war, ging er zurück in seine Heimat. Im Nordsee-Restaurant Inter Scaldes scheinen die drei Sterne in Reichweite.
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Das offene Meer ist nah, die Schelde gleich vor der Tür.

Es gibt ein Für und Wider, was das Essen vor dem Essen betrifft. Einerseits besteht die Gefahr, nach einem ausgiebigen Lunch allzu gesättigt zum feierlichen Abendessen zu gehen. Andererseits bietet so ein Plan ja die Möglichkeit, sich einzustimmen auf die Küche einer Region. Mit Steinbutt zum Beispiel. Das Lunchlokal, genauer gesagt, das Bistro des Zwei-Sterne-Restaurants De Kromme Watergang, hatte ihn auf der Karte. Und auch wer Steinbutt nicht mehr sehen kann, weil er in der Schweizer Top-Gastronomie rauf und runter dekliniert wird, sollte hier einen Versuch wagen. So nämlich wird er oder sie Steinbutt im Binnenland niemals bekommen. Gut und gern 400 Gramm sind es pro Gast, dicke Stücke, an den Gräten gebraten, saftig, ultrafrisch und knusprig zugleich. Traumhaft.

Nordsee eben. Zeeland. Die neue Heimat von Jeroen Achtien. 40 Minuten Autofahrt sind es von Hoofdplaat, wo der Kromme Watergang die Tische um seinen niedlichen Karpfenteich gruppiert, bis nach Kruiningen. Das offene Meer ist nah, die Schelde gleich vor der Tür. Jedenfalls die eine Schelde, die westliche. Bis zur anderen, der östlichen, die längst ein Meeresarm geworden ist, fährt man nochmals zehn Minuten. Bildet man sich ein, angekommen im Inter Scaldes, dass man das Meer riecht, oder duftet es tatsächlich nach Algen? Vielleicht ist ja auch die Auster, einer der Einstiegshappen, die der Küchenchef anrichtet, für den jodigen Geruch zuständig. Anrichten tut sie ein grosser Blonder, der gute fünf Jahre lang das Sens im Vitznauerhof zu einer der angesagtesten Adressen der Schweiz gemacht und mit seinem lockeren Stil die Szene der etablierten Langweiler aufgemischt hat. Zwei Sterne hat er geholt, und man hätte sich gut vorstellen können, dass Jeroen Achtien samt Gattin Sanne für immer geblieben wäre am See.

Der Reiz der drei Sterne
Stattdessen ist es die See geworden. Die Rückkehr in die Niederlande zu diesem Zeitpunkt war, wie man hört, nicht von langer Hand geplant. Vielleicht lockten, mehr noch als Heimat und Sprache, die drei Sterne des Manoir Inter Scaldes – des Hauses zwischen den Schelden. Diese trug das von Maartje Boudeling einst zu nationalem, später von Jannis Brevet zu internationalem Ruhm gebrachte Restaurant bis vor Kurzem nämlich. Offiziell leuchten gerade keine Sterne, normal beim Wechsel, aber man darf Achtien unterstellen, dass die Chance reizte und immer noch reizt. Seine Auster, mit diversen Algentexturen und -essenzen angerichtet, würde die Michelin-Tester wahrscheinlich nicht nur in der Nase, sondern auch im Mund beeindrucken. Und das zuvor gereichte schaumig-leichte Käse-Sandwich samt einem Glas fermentierten Randen-Ketchups würden sie, wenn sich die Inspektorinnen in der Schweiz auskennten, wiedererkennen. Es war nicht zuletzt diese neckische Herangehensweise ans Essen, die Achtien schon in Vitznau die Herzen der Tester und Gäste zufliegen liess.

Das Necken hat sich indes zum durchdachten, souveränen Erlebnis weiterentwickelt. Eines, das auch Sanne Achtien und den Nachwuchs integriert; das Baby darf schon mit zum Kräuterschneiden am frühen Morgen. Algen bekommt Achtien natürlich aus dem Meer, Garnelen, Fisch und viele andere Zutaten sowieso. Die der Anrichtung der Austern gewidmete Küchentheke ist übrigens die zweite Station für die eintreffenden Gäste, nach dem Salon, in dem der Hauschampagner angeboten und allererste Snacks serviert werden. Von der Küche wiederum gehts schnurstracks in den Gastraum. Inwiefern bei schönem Wetter die herrliche Terrasse eingeplant wird in die Abläufe, wird nicht ganz klar.

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Klar ist allerdings, dass hier mächtig investiert wurde. Ein paar Monate nur habe man geschlossen gehabt, sagt Jeroen Achtien. Und in dieser Zeit mal eben einen neuen Pavillon errichtet, in dem es eleganter zugeht als in fast allen europäi​schen Restaurants. Geschwungene Sitzbänke, welche die elf Tische in Separées verwanden. Dazu kommen ein Private Dining Room und ein Chef’s Table. Die zwölf Suiten im Nachbargebäude waren schon zuvor da. In der neuen Küche fehlt nichts, was sich Köche und Köchinnen von heute wünschen würden – vom Green Egg bis zum Platz; ein gewaltiger Unterschied zum überschaubaren Kochbereich im Vitznauer Sens.

Donatsch trifft Sushi-Reis
Was wäre eine Auster, was wäre ein mutmassliches Drei-Sterne-Restaurant ohne Champagner? Es gibt ihn, natürlich. Sommelière Tessa van de Wouw, schon zuvor verantwortlich für die Weine, durfte gross einkaufen. Ein Teil von früher wurde behalten, aber viel, viel mehr dazugesellt. Jede Menge Schaumwein, ein beachtliches Sortiment an deutschen Rieslingen und, man staune, Spätburgunder aus bundesrepublikanischen Weinbergen. Auch die Schweiz gibts. Gantenbeins Riesling ist da, der Completer von Donatsch gleich in mehreren Jahrgängen verfügbar. Ein bisschen der zwischenzeitlichen Heimat will Achtien mitbringen, seinen Landsleuten schmackhaft machen. Auch eidgenössische Butter hatte er bei der Übersiedlung im Gepäck, sie stammt von der Rigi und kommt bald, nachdem die Gäste Platz genommen haben. Später darf, wer will, auch Schweizer Käse probieren.

Dazwischen indes gehört die Bühne einer regional geprägten Küche, die an den komplexen, verblüffenden Stil von früher erinnert – und doch anders ist. Überraschend, aber sehr logisch und fast schlicht wirkend zeigt sich die ungestopfte Entenleber mit Randen und karamallisierten Sonnenblumenkernen; durch die nudelartige Textur wird die Leber viel intensiver wahrgenommen, als wenn sie block- oder mousseweise im Mund andockte. Schnell erinnert man sich an die Entenleber mit Austern, Aal und Jalapeño, die einst im Restaurant Sens auf der Karte stand. Der Kaisergranat, roh als scheibenförmiges Tatar mit Tomaten, Vanille, Cashewnüssen, stellt hier das Produkt in den Vordergrund und ergänzt es fruchtig-exotisch, aber nicht süss oder aufdringlich. Und dann die Desserts. Sushi-Reis mit Kirschen und Pistazien sowie Mädesüss-Glace, ganz auf Textur und Produkt aufbauend. Das vom Souschef am Tisch gestürzte Quarksoufflé mit Himbeeren, Holunderblüten und Pistazien steht nicht im Menü, sondern ist einer der À-la-carte-Gänge, die ebenfalls zum Konzept gehören. So ein Angebot sei ihm wichtig, sagt Achtien, obwohl man dafür mindestens einen Koch respektive eine Köchin mehr brauche. Dafür ist es hier – im internationalen Vergleich – noch günstig.

Auster gibt es dann nochmals an diesem Tag. Zusammen mit Lamm als einer jener filigranen Gänge, die Meer und Land verbinden und gerade in Mode kommen in der internationalen Kreativgastronomie. Er ist nicht ganz so spannend wie die Kombination aus Wildente und Auster, ein paar Monate zuvor in der französischen Auberge du Vieux Puits in Fontjoncouse verzehrt, aber immer noch sehr spannend. Wer mehr Austern wollte, könnte sie am nächsten Morgen im nahen Yerseke essen oder mitnehmen, da also, wo die Zeeland-Austernzuchten ihre Verkaufsräume haben. Ein letzter Duft von Meer vor der Abreise. Der Hunger ist bis dahin vielleicht zurück, denn auch nach acht Gängen mitsamt Zusatzhappen und dem mehrgängigen Frühstück am nächsten Morgen stellt sich im Restaurant Inter Scaldes nie ein Gefühl der Fülle ein, sondern eines federleichter Zufriedenheit. 

Restaurant Inter Scaldes, Zandweg 2, 4416 NA Kruiningen, Niederlande, +31 113 381 753, interscaldes.nl

Zeeland – Austern, Garnelen, Steinbutt 

 

Zwei Eingänge gibt es – einen fürs Gourmetlokal, einen fürs Bistro. Der zweite ist noch schöner, weil er direkt durch den Weinkeller führt und, bei schönem Wetter, auf die Terrasse mündet. Die Garnelenkroketten schmecken ausgezeichnet, der Steinbutt ist grosse Klasse. Nur die offenen Weine enttäuschen.

De Kromme Watergang, Slijkplaat 6, 4513 KK Hoofdplaat, Niederlande, +31 117 348696, krommewatergang.nl

Eine reichlich skurrile, aber auch umwerfend leckere Mischung aus niederländischen und italienischen Einflüssen. Fischsuppe, Oosterschelde-Hummer und hausgemachte Pappardelle passen prima zusammen.

De Gouden Bock, Damplein 17, 4331 GC Middelburg, Niederlande, +31 118 617484, degoudenbock.nl