15.11.2022 Salz & Pfeffer 6/2022

Der Quer-Aufsteiger

Text: Virginia Nolan – Fotos: Jürg Waldmeier
Als Asylsuchender schnupperte Okbit Teweldemedhin 2020 erstmals in der Gastronomie. Heute ist der 22-Jährige im zweiten Lehrjahr zum Koch und ein Musterbeispiel dafür, welches Potenzial integrative Ausbildungsmodelle haben – für alle Beteiligten.
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«Schule ist hierzulande komplett anders als in meiner Heimat.»

Manchmal lässt er Kelle, Schwing­besen und Messer ruhen und zückt statt­dessen Stift und Karteikarte. Meist tut er das, wenn in der Küche gerade ein bisschen Ruhe eingekehrt ist, aber im Prinzip weiss Okbit Teweldemedhin: Er darf je­ derzeit nachfragen. Häufig gibt es nach der Berufsschule Erklärungsbedarf, dann sind Küchenchef René Küng und dessen Stellvertreter Kevin Nussbaum für ihn da. Teweldemedhin ist froh darum. Denn jetzt, in der Kochlehre, geht es Schlag auf Schlag. Das Tempo ist hoch, der Stoff­plan dicht. Da mitzuhalten ist für den 22-­Jährigen eine Herausforderung, die Aussicht auf das eidgenössische Fähigkeitszeugnis (EFZ) sein grösster Ansporn. Damit kein Traum bleibt, was er sich zum Ziel gesetzt hat, nehmen sich die Team­mitglieder auch im Tagesgeschäft Zeit, um mit ihm zu üben: sei es Warenkunde, die Kunst der Patisserie oder aber das The­ma Arbeitsplatzorganisation.

Teweldemedhin ist ein Lehrling mit un­gewöhnlicher Vita. Er ist im wortwört­lichen Sinne über Umwege dahin gekom­men, wo er, wie er sagt, seinen Platz gefunden habe – in der Küche des Restau­rants Annamia. Der öffentliche Gastrono­miebetrieb ist Teil der Stiftung St. Anna in Luzern. Vor einem Jahr wurde der Neu­bau eröffnet, hat das Küchenteam hier seinen Betrieb aufgenommen.

Anfang 2022 stiess Teweldemedhin dazu, nachdem sein ehemaliger Lehrbetrieb an den Folgen der Pandemie zugrunde ge­gangen war. Sein Etappenziel, das er zu diesem Zeitpunkt im Blick hatte, ist nun erreicht: Im Sommer hat Teweldemedhin das eidgenössische Berufsattest (EBA) zum Küchenfachangestellten entgegengenom­men, die zweijährige Ausbildung bestan­den. «Mit Bravour», wie sein Ausbildner Nussbaum betont. Die Abschlussnote, eine 5,2, habe das Team mit Stolz erfüllt.

«Zu diesem Erfolg», findet Teweldemed­hin, «haben alle beigetragen. Ohne meine Kolleginnen und Kollegen wäre ich nicht da, wo ich jetzt stehe. Ich bin dankbar, zu wissen, dass sie mir auch in Zukunft zur Seite stehen.» Teweldemedhin hat viel vor: Im August konnte er dank seines Be­rufsattests gleich ins zweite Jahr der drei­jährigen Lehre zum Koch einsteigen. «In der EBA-­Klasse waren wir zu sechst, die Lehrpersonen liessen sich viel Zeit fürs Er­klären. Jetzt sind wir 22 und es geht mega schnell vorwärts», sagt er, lacht und ver­wirft die Hände. «Schule ist hierzulande komplett anders als in meiner Heimat.»

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«Ihm verdanke ich viel», sagt Okbit Teweldemedhin über Küchenchef René Küng, der beim Journalistenbesuch in den Ferien weilt. «Er ist mein Chef, mein Freund, mein Vater – alles zusammen.»
 «Ihm verdanke ich viel», sagt Okbit Teweldemedhin über Küchenchef René Küng, der beim Journalistenbesuch in den Ferien weilt. «Er ist mein Chef, mein Freund, mein Vater – alles zusammen.»
Unterstützung erhält Okbit Teweldemedhin auch vom stellvertretenden Küchenchef Kevin Nussbaum – zum Beispiel dann, wenn es nach der Berufsschule noch Erklärungsbedarf gibt.
Unterstützung erhält Okbit Teweldemedhin auch vom stellvertretenden Küchenchef Kevin Nussbaum – zum Beispiel dann, wenn es nach der Berufsschule noch Erklärungsbedarf gibt.
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Der junge Mann wuchs in einem Dorf in Eritrea auf, zwei Stunden Fussmarsch vom nächsten Telefonanschluss entfernt. Bis vor sieben Jahren lebte er da, bestritt mit Mutter und Geschwistern den Lebens­unterhalt in der Landwirtschaft. Den Va­ter hatte das gleiche Schicksal ereilt wie viele seiner Landsmänner: eine Militär­pflicht von unabsehbarem Ende – zu einem Sold, der fürs Überleben nicht aus­reicht. Der Sohn wollte den Fängen der Diktatur entgehen, der Gewalt, der Aus­sicht, für immer ein Leben in Armut zu fristen. So brach er, 15 Jahre alt, zu Fuss in Richtung Äthiopien auf, ohne der Mut­ter Bescheid zu sagen, die ihn sonst auf­gehalten hätte. Die Reise führte Tewelde­medhin weiter in den Sudan, durch die Sahara nach Libyen, dann übers Mittel­meer nach Italien. Nicht alle seine Weg­gefährten überlebten die Flucht, er selbst hatte Glück.

In der Schweiz wurde Teweldemedhin als unbegleiteter jugendlicher Asylsuchender vorläufig aufgenommen. «Mit 15 musste ich lernen, mit dem Verkehr, mit Handy und PC umzugehen», erinnert er sich. «Es war wie in einer anderen Welt.» Tewelde­ medhin begann, Deutsch zu lernen. Bald beherrschte er, der nur vier Jahre Schule absolviert hat, die Sprache gut genug, um ein Brückenangebot der Caritas wahrzu­nehmen. In dessen Rahmen erweiterte er seine Schulbildung, schnupperte in ver­schiedenen Berufen, absolvierte ein Prak­tikum in der Pflege. Dann reifte sein Plan: «Ich hatte schon immer gerne gekocht. Irgendwann dachte ich, ich könnte mein Hobby doch zum Beruf machen.»

Jetzt ist Teweldemedhin auf bestem Weg dahin. Seine Vorgesetzten fördern inte­grative Ausbildungsmodelle wie seines, weil sie dem Fachkräftemangel in der Branche entgegenwirken wollen. «Es gibt aber noch mehr Gründe, über den Teller­rand hinauszublicken und sich in der Be­rufsbildung nicht einfach am Standard­-Lebenslauf zu orientieren», sagt dazu Nussbaum, der in der Vergangenheit auch Lernende mit Lernschwierigkeiten oder psychischen Problemen ausgebildet hat. «Jugendliche, die in ihrem jungen Leben schon so manche Herausforderung meis­tern mussten, zeigen im Beruf oft un­glaublich viel Engagement, wenn wir ihnen die Chance dazu geben.» Tewelde­medhin, findet dessen Ausbildner, sei das beste Beispiel dafür: «Da ist so viel Moti­vation, so viel Wille.»

Aber sind integrative Ausbildungen, wie sie der junge Eritreer in Luzern durch­läuft, für den Lehrbetrieb nicht mit erheb­lichem zeitlichem Mehraufwand verbunden? «Verglichen damit, was Betriebe zu meiner Lehrzeit für Lernende aufwende­ten, auf jeden Fall», sagt Nussbaum. «Aber das sollten wir uns auch nicht zum Vorbild nehmen, nicht umsonst sind unserer Bran­che die Leute davongelaufen. Wer talen­tierte junge Berufsleute gewinnen und sie langfristig halten will, muss Zeit in sie investieren – ganz egal, welchen Hinter­grund sie mitbringen.»