Aus dem verschnarchten Kellerrestaurant wird dreieinhalb Monate lang die hipste Adresse des Ortes.
Es gibt einen Film über Tim Raue, der alle Klischees bedient. Wütend haut der wie aus dem Ei gepellte Chefkoch in einer von Netflix gesendeten «Chef’s Table»-Folge auf die Arbeitsplatte und staucht einen Mitarbeiter mit drastischem Vokabular zusammen. «Beweg deinen verfickten Arsch.» Klar, ist ja auch ein Street-Kid, einstiges Gang-Mitglied, ein germanischer Gordon Ramsay. Da nimmt sich der testende Journalist besser in Acht. Nicht dass er noch mit der Suppenkelle aufs Maul bekommt. «Gastrokritiker vermisst nach einem Besuch beim scharfzüngigen Tim.» Wäre eine coole Schlagzeile.
Szene 1: Raue im Schnee
Raue ist ein Multitalent. Der 43-jährige Berliner führt ein Gourmetlokal in der deutschen Hauptstadt, hat Erfahrungen mit Zweitrestaurants, ist auf dem Kreuzfahrtschiff wie auch in Dubai präsent. Für die Wintersaison 2017/18 steht er zudem in St. Moritz am Herd – oder lässt zumindest stehen –, denn das ehrwürdige Kulm verjüngt sich. Aus dem verschnarchten Kellerrestaurant wird dreieinhalb Monate lang die hipste Adresse des Ortes. Hoteldirektor Heinz E. Hunkeler nennt den Hoffnungsträger the K by Tim Raue, gerät bei der Präsentation fast ins Schwärmen. Ob die Sache eine Fortsetzung finde im kommenden Winter, das sei allerdings noch nicht entschieden.
Und der Berliner selbst? Lächelt, grüsst und meckert auch dann nicht, als einer der geladenen Journalisten die kalten Hauptspeisenteller bemäkelt. Raue gibt höflich Contra: Das mache man immer so. Erst der Salat und die kalten Beilagen, dann komme das Warme dazu. Kein Porzellan werde vorgewärmt, aber Anregungen greife er selbstverständlich auf. «Vielen Dank!» Der Mann kann sich beherrschen, zumindest vor den Kulissen. Und eigentlich ist es nicht so wichtig, welche Temperatur die Teller aufweisen, denn Raue-Gerichte kann man aus der Ferne erkennen und beim Hineinschmecken sowieso.
Die Jakobsmuscheln etwa, mit Holunderblüte und grünem Thaipfeffer angerichtet, mit Zwiebelpüree und Zitronengras abgeschmeckt. Würzig ist es, dezent scharf. Spicyness ist Raues Markenzeichen, womit er sich unterscheidet von so ziemlich allen anderen Spitzenköchen, die ja über Süsse und Säure gern diskutieren und von der Geschmacksrichtung umami schwärmen, aber die Schärfe meiden wie der Teufel das Weihwasser. In Raues Wolfsbarsch mit Wasserspinat und schwarzem Trüffel, Nussbutterschaum, Haselnuss und Reisweinsud sind alle Komponenten drin, die geschmorte Rinderbacke mit Allium, schwarzem Pfefferjus und Zwiebelcrunch schrammt haarscharf am Zuviel an Würze vorbei, haut einen mit der Fleischqualität aber fast vom Sessel. Nur der Yuzu-Cheesecake mit koreanischer Zitronenmarmelade kommt nicht an die übrigen Gänge heran. Zwei Sterne für Raues Menü im Schnee? Beinah!
Szene 2: Raue in Kreuzberg
In Berlin ist die Doppelauszeichnung dagegen schon Realität und löst wahlweise Verwunderung oder Zustimmung aus. Die einen beschimpfen den Michelin lautstark, weil der sich nicht endlich zur Höchstnote entschliesse, die anderen beglückwünschen ihn dazu, sich nicht von der öffentlichen Meinung über den Tisch ziehen zu lassen. Schliesslich rangiert Raues Restaurant in Kreuzberg, ein paar Schritte vom Checkpoint Charlie entfernt, weit vorn auf jenen Listen, die sich seit ein paar Jahren alle unter die Nase halten. Gemeinsam mit Sven Elverfeld aus dem Aqua und Joachim Wissler, der mit dem Vendôme zu Ruhm gekommen ist.
Ob es Raue wurmt, dass er Michelin-technisch immer noch nicht in die Drei-Sterne-Liga der beiden Kollegen aufgestiegen ist? Fragen danach lässt der Teilzeit-Charmeur abperlen wie ein Lotusblatt den Sommerregen. Auch der Hinweis auf den Fotografen der Bild-Zeitung, der gerade an diesem Mittag in der Ecke des Lokals sitze, hat keinen Informationswert. Oder doch: Raue kann, das wird klar, mit den Medien umgehen. Wie viele Gänge er machen solle, fragt der Chef, nimmt die vom Tester erbetene Beschränkung auf vier nicht krumm, lässt auftragen. Kleinigkeiten wie Schweinebauch, Nüsse und scharf eingelegtes Gemüse vorweg, dann Ikarimilachs mit Orangenöl, Tomate und Sternanis oder gefakte Carbonara mit weissen Trüffeln, schliesslich Quitte, Macadamia-Nougat und Passionsfrucht. Der Imperialkaviar mit Makrelentatar und Sprottenmousse ist klar drei Sterne wert, alles andere zwei.
Sogar ein warmer Teller ist im Angebot: Versehen oder Eingehen auf Wünsche und Reklamationen? Weil Raue kein Brot reicht und die Portionen überschaubar ausfallen, ist der Esser nach dem Lunch nicht komplett gesättigt, dafür wird der Champagner offeriert. Nächstes Mal, denkt der Berichterstatter vor der Rückreise in die Schweiz, nimmt er halt ein, zwei Gänge mehr. Den am Tisch gedämpften Fisch, einen Klassiker. Oder die berühmten Dim Sum von der Jakobsmuschel. Und dass es ein nächstes Mal geben wird, steht für ihn unzweifelhaft fest. Trotz der Schärfe, die sich auch hier durchs Essen zieht und die mal wegzulassen sich Raue durchaus zugestehen könnte. Aber wo sonst in Deutschland oder in der Schweiz gibt es so lockere, grossstädtisch wirkende Restaurants? Solche, die an einem Mittag rappelvoll sind und eine internationale Klientel anlocken? Die auf selbstbewusste Weise einen eigenen Stil durchziehen? Verdammt wenige.