«Die Schweizer waren kulinarisch nie Pioniere.»
Sie sagen es selbst: Sie reden schnell und erzählen viel. Trotzdem hört man Ihnen gern zu. Warum eigentlich?
Dominik Flammer: Wenn ich Vorträge halte, wollen die Leute tatsächlich immer mehr wissen. Das ist aber kaum meinem Talent zu verdanken, sondern schlicht dem Thema. Die Ernährungsgeschichte verrät viel über unseren eigenen Hintergrund. Sie ist Teil unserer Identität.
Das ist ein gutes Stichwort: Wie sieht es aus mit der Identität der Schweizer Küche – gibt es die überhaupt?
Und ob. Wir haben eine sehr breite und spannende Schweizer Küche. Das Mittelmass in der Gastronomie führt aber dazu, dass man sie oft mit der bürgerlichen Küche verwechselt. Diese wiederum sehe ich nicht als Definition, sondern als eine Basis, die es auszubauen gilt. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand die hiesige Küche unter einem extremen Einfluss der französischen Küche; man kochte mit Steinbutt und dachte, es ginge nicht ohne Albatrüffel und Hummerbutter. Trotzdem formierte sich in der Spitzenküche bereits vor 30 Jahren auch eine Bewegung, die ausschliesslich mit einheimischen Produkten arbeitete. Chrüteroski machte es vor – oder aber Meret Bissegger mit ihrer Wildpflanzenküche. Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren massiv verstärkt.
Sie definieren die Schweizer Küche also einfach als eine Küche aus einheimischen Produkten?
Ich würde sie so umschreiben: eine Küche aus einheimischen Produkten mit relativ authentischen urschweizerischen Rezepten. Leider haben wir das ein bisschen verlernt: Welcher Koch wagt es, einen Ribel auf die Karte zu nehmen, ein Capuns, ein Maluns oder den klassischen Kartoffel-Lauch-Stampf mit etwas Rahm, Weisswein und Gewürzen? Dabei sind diese Produkte massenhaft vorhanden: alles ist da! Ich wuchs mit solchen Gerichten auf, mit den Wursttraditionen beispielsweise der Ostschweiz oder eben dem Ribel mit einer Holderzonne und einheimischem Rohmilchkäse. Meine Mutter machte Holderchüechli und Erdbeerschnitten: urschweizerische Gerichte.
Wie urschweizerisch sind Erdbeeren?
Ich bin der Meinung, dass alles urschweizerisch ist, was bei uns wächst. Traditionen muss man nicht bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Kartoffeln, zum Beispiel, isst man hier erst seit 200 Jahren – und wer würde daran zweifeln, dass sie zur Schweizer Küche gehören? Es gibt kaum einen so urschweizerischen Znacht wie Gschwellti.
Was heisst das für die Gastronomie?
Sie kann sich dieser Gerichte annehmen – und diese auf ein höheres Niveau heben. Warum nicht Gschwellti deluxe; spezielle alte Kartoffelsorten mit sehr guten Käsen? Urschweizerischer gehts nicht. Und ich behaupte, ich kann das beurteilen.
Warum?
Ich lebe in der Schweiz, im Alpenraum, und bin konstant unterwegs. In jeder Gegend entdecke ich regionale Eigenheiten. Die Unterschiede sind gross – und grossartig. Jede Region bietet Spezialitäten und hat eigene Traditionen. Man schaue sich nur mal die Brotvielfalt an: Jeder Kanton kennt eigene Rezepturen. Das St. Galler Brot oder das Tessinerbrot sind berühmte Beispiele. Ich entdeckte aber kürzlich auch den Luzerner Weggen ... Wir müssen nur die Augen aufmachen: Alles ist da. Eine wichtige Rolle spielen in dieser Hinsicht die Detaillisten, die heute mehr bieten müssen als die Supermärkte. Sie tragen gemeinsam mit den Innovatoren aus der Schweizer Landwirtschaft dazu bei, dass unsere Auswahl konstant wächst.
Will heissen: Für kleine Produzenten wird der Markt zunehmend lukrativ.
Auf jeden Fall. Das muss so sein.
Sie sehen also eine gewisse Rückbesinnung darauf, wieder beim lokalen Bäcker oder Metzger einzukaufen?
Nein, keine Rückbesinnung. Ich sehe die Schweizer Küche vielmehr als ewige Konstante. Diese erfährt zurzeit keine Renaissance, aber eine massive Stärkung. Und es war schon immer so, dass um sie herum ständig Einflüsse aus dem Ausland oszillieren, dass neue Produkte dazukommen, die man einzubinden versucht – und die dann plötzlich als einheimisch gelten.
Was verstehen Sie unter Regionalität?
Regionalität ist für mich mit dem politischen Föderalismus vergleichbar und wird in der Schweiz von vielen Parametern definiert; von der Geschichte, der Religion, dem Klima. Diese Faktoren prägen die jeweiligen Eigenheiten. Der Thurgau wurde zu Mostindien, weil man sich dort auf Äpfel und Birnen spezialisierte, nachdem die Reblaus und der Mehltau den Reben den Garaus gemacht hatten. Im Wallis setzte man aus der gleichen Not heraus auf Aprikosen, in der Waadt auf Baumnüsse. Aufgrund der religiösen Ausrichtung haben Fischtraditionen oder Gewürzbrote und Festtagsgebäcke in katholischen Gegenden mehr Gewicht als in reformierten. So ergaben sich all diese Unterschiede. Die Identität der Schweizer Küche setzt sich wie das Land selbst aus der Summe dieser Eigenheiten zusammen.
Sie sagen, die Schweizer Küche sei vielseitiger, «als man wahrhaben will»: Warum diese Formulierung?
Das hängt damit zusammen, dass der Schweizer seine Kulinarik lange nicht so wichtig nahm. Wir sind ein relativ multikulturelles Volk, keine klassische Nation.
Fehlt uns der kulinarische Patriotismus?
So kann man das sagen. Dafür ist ein starker Regionalismus vorhanden: Dem Tessiner ist die Polenta mit Formaggini heilig, dem Appenzeller die Siedwurst mit Käsespätzli, dem Basler die Mehlsuppe.