«Ich glaube, dass die Jungen heute gesünder unterwegs sind und wir von ihnen lernen können.»
Ihre These ist kurz und bündig: Arbeit mache gesund, sagen Sie. Warum?
Rita Buchli: Weil sie so viele menschliche Bedürfnisse abdeckt, angefangen bei den existenziellen, die sich über den Lohn erfüllen lassen. Aber auch das Bedürfnis nach Sicherheit und Struktur, die sozialen Bedürfnisse, das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit und Selbstverwirklichung. Arbeit ist eine Riesenressource. Wobei man sagen muss: Sie kann auch krank machen.
Was braucht es, damit das nicht geschieht?
Arbeit sollte vielfältig sein, sodass verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten eingesetzt werden können. Sie sollte sozialen Austausch ermöglichen und Sinn ergeben. Mich persönlich macht Arbeit gesund, wenn ich – inhaltlich wie auch bezüglich der Einteilung der Arbeit – Handlungsspielraum und Entscheidungskompetenz habe und mich entwickeln kann. Arbeit sollte eine Perspektive bieten. Und natürlich muss der gesetzliche Rahmen eingehalten sein – etwa, was die Zeit für Erholung angeht. Wobei Elon Musk zum Beispiel eine 60- oder 70-Stunden-Woche absolviert, ohne daran zu zerbrechen. Sein Leben ist so eng mit der Arbeit verknüpft, die ihm Sinn und Identität stiftet, ein starker Motor ist und ihm Erfolg beschert, dass ihn das Pensum nicht krank macht. Wir wissen aber nicht, was passiert, wenn plötzlich die Aktien fallen oder keiner mehr Tesla fährt. Der damit verbundene Druck ist sicher nicht sonderlich gesund. Ich will also nicht sagen: Arbeiten Sie alle so viel wie möglich. Sondern: Finden Sie heraus, wie viel Arbeit und welches Modell für Sie passt.
Eine Aufgabe, die auch viele Gastrobetriebe zu lösen haben: die bestehenden Strukturen überdenken – weil in allen Bereichen qualifiziertes Personal fehlt. Was ist da passiert?
Der Fachkräftemangel zeichnet sich schon länger ab, die Pandemie hat die Entwicklung aber beschleunigt und die Lage verschärft – sei es im Pflegesektor, im Bildungswesen oder eben im Gastgewerbe. Was verbindet diese Branchen? Sie haben einen dienenden Charakter und sind oft mit wenig Prestige verbunden. Schade, dass es so weit kommen musste, aber ich hoffe, dass mit der Krise der Wert dieser Berufsfelder wieder steigt, dass wir als Gesellschaft bereit sind, dafür mehr Geld in die Hand zu nehmen. Pflege, Bildung, Auswärtsessen: Das muss teurer werden. Wenn ich im Restaurant eine richtige Bedienung will, sollte ich dafür bezahlen – sonst muss ich mich wie im McDonald’s mit einer Maschine begnügen, die meine Bestellung aufnimmt.
Sollten wir denn tatsächlich auf mehr Digitalisierung setzen?
Ich glaube, dass diese in einzelnen Bereichen künftig noch stärker eine Rolle spielen wird – in der Küche zum Beispiel mit den richtigen Geräten. Vielleicht traut man sich aber, gerade im Gastgewerbe, auch, das eigene Angebot zu verdichten. Warum nicht im Rahmen von neu konzipierten Arbeitszeiten?
Die Viertagewoche wird in der Branche derzeit als vielversprechender Ansatz gehandelt. Wie sehen Sie das?
Ich begrüsse, dass wir darüber diskutieren und starre Strukturen aufweichen. Ob das in Richtung Viertagewoche gehen muss, weiss ich nicht. Aber es gibt gute Beispiele, immer mehr auch in der Schweiz. Ein Versuch in Island, bei dem 2500 Beschäftigte – also rund ein Prozent der Erwerbsbevölkerung – im Rahmen einer Viertagewoche weniger Stunden bei gleichem Lohn leisteten, zeigte, dass der Output sich nicht verändert. Es gibt aber auch andere Ansätze, die sich allenfalls auf das Gastgewerbe anwenden liessen. In Deutschland fahren Pflegeinstitutionen zum Teil gut damit, ihre Angestellten drei Wochen lang mehr als die reguläre Zeit arbeiten zu lassen – und ihnen anschliessend eine Woche Urlaub zu geben. Dafür braucht ein Betrieb allerdings eine gewisse Grösse. Den einen richtigen Weg gibt es also nicht, grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten: Ein Konzept wie die Viertagewoche eignet sich für Firmen, die für einen Kulturwandel bereit sind. So etwas lässt sich nicht einfach über ein bestehendes Modell stülpen, sondern bedingt weitere unternehmerische Überlegungen.
Was heisst das?
Es gilt, die Rahmenbedingungen zu überdenken, die eigene Ausrichtung. Die Verantwortlichen müssen sich fragen: Welche Gäste, welche Kundschaft wollen wir? Welches Angebot brauchen wir wirklich, wo haben wir Spielraum? Dann aber eben auch: Was wünschen sich unsere Teammitglieder? Und was wollen potenzielle künftige Mitarbeitende? Wie machen wir uns als Betrieb für diese attraktiv?
Gerade diese Frage wird immer wichtiger.
Auf jeden Fall, die Zeit dafür ist reif. Die Generationen Y und Z, die auf den Arbeitsmarkt kommen, verlangen mehr Flexibilität und individuelle Lösungen. Bietet eine Branche keine Wahlmöglichkeiten, entscheiden sich junge Menschen schlicht nicht mehr für sie. Der Fachkräftemangel unterstützt das: Sie müssen nicht mehr nehmen, was ihnen geboten wird.
Die Mitarbeitenden sind inzwischen also am längeren Hebel?
Der Wind hat sich gedreht, ja. Für Betriebe heisst das: Sie müssen sich bewegen, und wenn sie das nicht tun – das weiss man aus den letzten 100 Jahren Geschichte –, gehen sie unter. Wer jetzt bloss über die junge Generation wettert und findet, die sei faul und wolle nur Freizeit, hat das Wesentliche nicht verstanden. Jetzt geht es darum, sich den veränderten Bedingungen zu stellen und zu erkennen, welche Chancen diese bergen.
Welche denn?
Es ist wohl so, dass die Generationen Y und Z weniger einfach zu handhaben sind als die vorhergehende, die von der Erfahrung geprägt ist, dass es nicht für alle Jobs gibt. Aber ich glaube, dass die Jungen heute gesünder unterwegs sind und wir von ihnen lernen können. Sie sind von krassen Ereignissen wie beispielsweise 9/11 oder anderen terroristischen Akten geformt, die das Hier und Jetzt wichtiger machen. Was bringt es, Geld anzuhäufen, um nach dem Ruhestand ein schönes Leben zu haben, wenn dieses morgen vorbei sein kann? Warum sollte ich alles auf die Arbeit setzen, wenn plötzlich eine Pandemie oder ein Krieg ausbricht, der das Ende meiner Unternehmung bedeutet? Das hat die Wertehaltung verschoben: Weltoffenheit, Flexibilität und Zeit – auch mit der Familie – haben Vorrang. Zum Glück! Für alle anderen bedeutet das: Der Prozess ist schmerzhaft, aber unumgänglich. Wir brauchen neue, agilere Arbeitsformen und müssen Strukturen und Haltungen überdenken.