«Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Mozarrella.»
Die Veganuary-Challenge 2021 ist vorbei. 500000 Menschen assen einen Monat lang ausschliesslich getötete Pflanzen und tote Pflanzenteile. Aldi lud Vegi-Rezepte hoch, Tesco fuhr eine TV-Kampagne, Marks & Spencer lieferte einen Menüplan. Aus Liebe. Zweitens zu den Tierli, erstens zu den Umsätzen bei den Fleischersatzfuttermitteln. 2022 wird eine Million Menschen den Veganuary absolvieren, darauf wette ich eine Saucisson.
Meine Jüngste ass nie Poulet. Wegen Jööö. Mit Schweinen hatte sie weniger Mitleid. Zu wenig Jööö. Tierrassismus? Ihr doch egal. Aber wie die Töchter wuchsen, so schrumpfte ihr Fleischkonsum. «Liebe Kinder», flötete ich, «wir Menschen verdauen kein Gras, also hat Gott der Herr in seiner Güte die Kuh erschaffen, die den Teppich des Appenzellerlandes abgrast und ihn zu unserem Wohle zu Eiweiss verwandelt.» Vergebens.
Mittlerweile sind die Töchter volljährig. Und was tun sie? Sie vegetieren. Nicht Vollzeit, aber hochprozentig. Eine liebäugelt aus beziehungstechnischen Gründen sogar mit der veganen Küche. Tierwohl, Regenwald, Transportwege, Emissionen, schon klar, dabei sind sie ja aufgewachsen mit Milch und Fleisch von frohem Getier von hier. Aber ihnen als Studis ist das zu teuer. Wichtiger ist: Fleisch vermissen sie nicht wirklich. Wenigstens grübeln sie keine Speckwürfeli aus der Gemüsewähe und schneiden auch mal ein Wursträdli ab. Aber die Moral hockt im Genick: «Heute bekomme ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich Fleisch gegessen habe, und dann denke ich: Es wäre nicht nötig gewesen.»
Das Letzte, was meine Töchter sexy finden, sind also Speisekarten der Kategorie «Vom Schwein, vom Kalb, vom Rind», sprich: Ich habe es nicht geschafft, aus meinem Nachwuchs Gaschtig zu formen. Und das als Bauernbub und gelernter Koch. Können meine drei Geschwister und ihre zehn Goofen die Familienehre noch retten? Meine kurze Umfrage im Sippen-Chat ergibt: 20 Prozent futtern Vieh, 60 Prozent vegi/flexi, 20 Prozent vegan, und bei fast allen nimmt der Anteil an Nahrungsmitteln tierischer Herkunft ab.
Evi und Beat, vier Kinder: Beat (55) und Tom (elf) sind Fleischtiger. Rahel (18) «kommt nicht vom Fleisch los, obwohl sie möchte». Conny (13) isst im Schullager vegi, «weil es dort bestimmt Massenfleisch gibt». Familienköchin Evi (50) kauft bio direkt ab Hof und Poulet vom Eier-Bauern, der seine ausgeeierten Legehennen und die unnützen Güggeli selber verwurstet, statt sie in die Biogasanlage nach Deutschland karren zu lassen. Sie selber isst nur selten Fleisch. Angesteckt mit dem Vegi-Virus wurde die Familie von Sven (20): «Ich esse zu 90 Prozent vegan, für die Gesundheit und die Umwelt. Kompromisse gehe ich ein, wenn eine vegane Extrawurst für mich zu aufwendig wäre oder wenn meine Haltung jemanden beleidigen könnte.» So sind Vegi-Alternativen in die Familienküche eingezogen, und auch die Fleischtiger gewöhnen sich an Hummus.
Walti (60) und Susanne (55) essen zwei- bis dreimal die Woche Regio-Fleisch. Schwiegersohn Mario (28) liebts. Tochter Bianca (27) kauft nur Fleisch, das runtergeschrieben ist und gleichentags im Abfall landen würde, nämlich «um es zu retten vor Foodwaste». Auswärts isst sie konsequent vegi. Noemi (25) war drei Jahre lang Flexi und ist nun seit zwei Jahren Vegi: «Ich schrieb eine Arbeit über die Würde des Lebens, bei der mir klar wurde, dass geborene Tiere so schützenswert sind wie ungeborene Menschen.» Vorteil im Alltag: «Ich muss mich nicht mehr immer fragen, ob mein Aktionskauf die Nachfrage nach Fleisch steigert oder nicht.» Während ihrer Zeit in einem Slum in Chile ass sie ihrer Gastfamilie zuliebe alles, was auf dem Teller lag. Larissa (23) war drei Jahre öko-vegi, wurde dann von der Paula zur Saula und isst jetzt nur noch flexi, weil sie Fleisch gern hat. Der Jüngste (21) «probiert den Konsum zu verringern, der Geist wäre willig, aber das Fleisch ist zu gut».
Köbi und Helena essen ein-, zweimal pro Woche Fleisch, aus der Schweiz und bio. Sohn Pascal (28) und Schwiegertochter Janna (28) sind seit drei Jahren vegi und seit einem Jahr vegan, primär für Umwelt und Gesundheit. Ab und an liegt ein Ausbruch drin – wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Mozzarella –, aus sozialen Gründen sind sie kompromissbereit. Und Roman (25)? Der postet ein Selfie. Er im Kühlraum zwischen einem Dutzend Schweinsstotzen. Er ist Metzger. Beim besten Metzger in town. Fazit: Dem Hummus steht eine grosse Zukunft bevor. Bis bezahlbares und schmackhaftes Laborfleisch in den Läden ist (Fleisch also nichts mehr mit getöteten Tieren zu tun hat), werden viele den Fleischgeschmack nicht mehr gewohnt sein. Für Indien ist es gut, fürs Appenzellerland schlecht und für die Gastronomie ein Grund, sich neu zu erfinden.
Vorletzte Woche ass ich eine butterzarte Rindszunge. Aber Hummus ist gar nicht übel. Meine letzten Mahle bei Hiltl und im Tibits waren spitze, aber das ist auch das Cordon bleu bei Peter und Annelies im Ochsen. Die Welt dreht sich – und der Mensch dreht mit.