«Wer seinen Vorgänger kopiert, beginnt schon am Anfang mit Aufhören.»
«Die berühmte Rösti gibt es nicht mehr», titelt das St. Galler Tagblatt. Es geht um den Aescher, die Bergwirtschaft im Appenzeller Alpstein und in allen Blättern, wir erinnern uns. Weltberühmt, National-Geographic-Cover, Gästeflut, Irrsinn, Platz zu wenig, Arbeit zu viel, Infrastruktur mühselig, Pächter entnervt, Besitzer verschlafen, Pächter kapituliert, Besitzer erwacht, investiert, ausgeschrieben, unterschrieben, und jetzt gehts wieder los mit einem frischen Knechtle, praktischerweise heisst er genauso Knechtle wie die Bisherigen, der Aescher kann weiter Pächter knechten. Nur «die berühmte Rösti» gibt es nicht mehr. Und warum?
Weil Gallus Knechtle und Melanie Gmünder nicht blöd sind. Saison um Saison in einer kleinen Bergküche 15 Tonnen Agria-Erdäpfel kochen, schälen, braten tut nur, wer vom Publikum geköpft wird, wenn er damit aufhört. Als frischer Knechtle lässt man das lieber gleich bleiben. Wer seinen Vorgänger kopiert, beginnt schon am Anfang mit Aufhören. Ausserdem soll man sich nicht an einem Blockbuster versuchen, der zu gut war, um wahr zu sein. Die «berühmte Rösti» war nämlich genauso die weltbeste Rösti, wie etwa 100 andere weltbeste Röstis in Bergwirtschaften zwischen Graz und Chamonix die weltbesten Röstis waren, sind und bleiben werden immerdar. Der Hunger ist der beste Koch, die Erwartung ist die beste Köchin.
Wer früh auf aus dem Haus marschiert in der Überzeugung, heute im Aescher die weltbeste Rösti zu essen, dem laufen schon in der Ebenalpbahn die Gewässer im Mund zusammen. 100-mal hat man gehört und gelesen, die Aescher-Rösti sei die weltbeste, hat sie selber empfohlen, hat Freunde heraufgeschleppt und die Gondel obsi erfüllt mit Lobgesängen, während die Freunde dann die Gondel nedsi mit Hymnen beschallten und Röstifotos online stellten. Wenn alle sagen, «die berühmte Rösti» sei die beste, dann ist sie es auch, so viele können sich nicht irren.
So war es bei Hitler und so ist es bei der Rösti. Ist das Kollektiv erst mal hysterisch, dann misstraut das Individuum im Widerspruchsfalle eher der eigenen Wahrnehmung als den Tatsachen. Wer einen Kontinent in Schutt und Asche legt, gesteht ungern eine Kapitulation ein. Und wer 100 Kilometer dafür gefahren ist, lügt sich fast jede Rösti schön.
Man lasse sich die berühmte Aescher-Rösti mal Ende November bei Nieselregen in der Abenddämmerung in der Ilge am Dorfrand von Tobel von einem wandelnden Sozialdrama auftragen. Die Rösti mag exakt dieselbe sein, aber die Strahlkraft geht ihr ab, weil Hype, Erwartung und Umfeld als Genussverstärker ausfallen. Dabei ist sie das gewisse Etwas. Die Aussicht am Aescher ist fantastisch, also schmeckt einem die Rösti besser. Die Sonne lacht und man hat frei – sonst wäre man nicht in die Berge –, also schmeckt einem die Rösti besser. Weltbesser. Gäste differenzieren selten, Touristen nie.
Es gibt in den Alpen 100 weltbeste Hausröstis, Hausknöpfli, Hausmakkaroni, Hausirgendwas. Auch die Aescher-Rösti ist einfach nur eine über Generationen hinweg bergwirtschaftstauglich optimierte Rösti, die im Lauf der Jahrzehnte so obenaus schwingt, dass sie beim Abgesang auf den Aescher im Tagblatt noch einen Titel erhält. Später sind der Heiligsprechung sowieso keine Grenzen mehr gesetzt, und irgendein frisch pensionierter Kulturpessimist, dem die neue Küche von Knechtle / Gmünder partout nicht schmecken will, wird am Fuss der Ebenalp wohl in ein paar Jahren noch einen Rösti-Gedenkstein hinstellen.
Wenige unverzichtbare Bergklassiker gibt es im Aescher auch weiterhin. Aber einiges ist klug variiert und frisch bezeichnet. «Aescher-Becki» nennt sich das Rindsgulasch mit Wurzelgemüse und Kartoffeln. Dazu gibts ewigfrisches Sauerteigbrot. Buttermilch-Ribel-Bramata mit Nussbutter steht zur Auswahl, mit Appenzeller Gässechääs, Birnen, Randen und Brennnesselpesto. Das sind gute Mise-en-place-Gerichte für grosse Mengen, es wird über Mittag auch ohne mehrstündige Rösti- und Cordon-bleu-Braterei noch genug zu tun geben. Geharnischte Kommentare wegen Preisaufschlägen für Zusatzbestecke gibt es auch keine mehr, die potenziellen Sharing-Gerichte sind mit abgestuften Mehrpersonenpreisen deklariert.
Möge es geraten. Möge nichts Kult werden. Möge Erfolg einkehren in gesunder Menge. Und mögen die Bisherknechtles nach Abschluss der Trauerphase wieder im Aescher einkehren ohne den bitteren Nachgeschmack, dass sie das auch gekonnt hätten. Das hätten sie nicht. Was man den Neuen als Neues gelten lässt, dafür wären die Bisherigen öffentlich hingerichtet worden. Nicht mal mit besseren Infrastrukturen hätten sie das gekonnt. Unschön ist es gleichwohl, dass die Wildkirchli-Stiftung geschlagene drei Jahre an den Investitionen herumlaboriert hat, bis es dann doch plötzlich vorwärtsging, als die Bisherknechtles das Handtuch warfen. Schade. Eine arbeitsame Pächterfamilie hat für ihren Chrampf auch dann Respekt verdient – nicht zuletzt in Form einer guten Infrastruktur –, wenn der Betrieb an einer der schönsten Ecken der Welt steht. Dafür kann sie nämlich nichts.