20.11.2016 Salz & Pfeffer 8/2013

Die Deutschen und der Hirnpudding

Text: Wolfgang Fassbender – Illustrationen: Rolf Willi
Die Schweizer Küche gilt als schmackhaft, bodenständig und ein wenig angestaubt. Auch die Deutschen, die es an hiesigen Herden zu Ruhm gebracht haben, wissen mit Gitzichüechli & Co. wenig anzufangen. Mit spannenden Ausnahmen.
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«Sein Traum vom deutschen Experimentalkoch, der in der tiefsten Schweiz eine ultraregionale Küche anrührt, ist erst mal ausgeträumt.»

Frank-Peter Scheffel ist im deutschen Hinterland aufgewachsen. Schweinsragout mit Grünkohl und Kartoffelsalat gab es dort zu essen, manchmal auch Sauerbraten mit Klössen, an Weihnachten wurde die Gans mit Maronen und Äpfeln gestopft. Doch von solchen Kindheitserinnerungen ist der Küchenchef des Restaurants Sternen im bernischen Thusiswil weit entfernt. Für seine Kreationen stöbert er heute in alten Schweizer Kochbüchern, kauft ausschliesslich Produkte, die im Umkreis von 25 Kilometern ums Restaurant wachsen, krähen und grasen. «Natürlich hat es im Winter keine Tomaten und keinen Salat», erklärt Scheffel, «und statt mit Pfeffer und Chili würze ich mit Kräutern, die ich im Unterholz finde.» Sein Berner Bauerngulasch, dekonstruiert und mit getrockneten Herbsttrompeten plus Baumnuss-Crumble neu zusammengesetzt, wurde bereits mit einem Stern ausgezeichnet, das Millefeuille von Thunersee-Hechtklösschen und Edelweiss lockt Gourmets aus halb Europa, die Schabziger-Glace ist legendär. «Die Region bietet alles, was man braucht», sagt der Koch im Interview, «als Deutscher habe ich hier das kulinarische Paradies gefunden.»

Frank-Peter Scheffel drückt zum Abschied die Hand, lächelt noch kurz und zerplatzt auf der Stelle. Auch der «Sternen» ist plötzlich verschwunden, Thusiswil entpuppt sich als Fata Morgana, der Autor erwacht. Sein Traum vom deutschen Experimentalkoch, der in der tiefsten Schweiz eine ultraregionale Küche anrührt, ist erst mal ausgeträumt. Ein eidgenössisches Extrem-Restaurant, das sich strengstens am schwedischen Gourmettempel «Fäviken» orientiert, hat seine Feuerstellen bislang nicht in Betrieb gesetzt. Und wenn es da und dort sehr wohl Ansätze einer nagelneuen Schweizer Küche (NSK) gibt, sind eher regional verwurzelte Nachdenker wie der Entlebucher Stefan Wiesner fürs Ausprobieren verantwortlich. Die deutschen Küchenchefs der Schweiz dagegen kochen vielfach so, wie es das breite Publikum wünscht. Mit Kalbskotelett und kanadischem Hummer, US-Beef oder Geflügel aus der Bresse, ein paar aktuelle Moden und ab und an Fusion-Food-Kreationen eingerechnet. «Die Schweiz ist sehr traditionell», erläutert Rolf Fliegauf, doppelt besternter Chef des Tessiner Restaurants Ecco, und weiss auch, womit der weitgehende Verzicht auf Hackbraten, Zigerkrapfen & Co. in der feinen Gastronomie zusammenhängt. «Schweizer Gäste sind doch eher traditionell veranlagt und wollen eine Küche, die auf Klassik basiert.» Muss wohl auch mit der Geschichte zu tun haben, denn schliesslich existierten in Basel und Zürich bereits grossartige, an Escoffier wie Bocuse orientierte Restaurants, als die Deutschen keinen Gedanken ans gehobene Schlemmen verschwendeten. Nicht nur die Westschweizer wurden von den Franzosen beeinflusst, auch die Top-Gastronomie der Deutschschweiz orientierte sich an der Grande Nation, während die Tessiner immer lieber gen Süden blickten. «Ich denke, eine direkte Schweizer Küche gibt es, wenn, dann nur in der deutschen Schweiz und eher rustikal», überlegt Fliegauf.

Solche Rustikalität ist noch und wieder in jeder Buchhandlung sichtbar. Das legendäre Fülscher-Kochbuch der Schweizer Küche, erstmals 1923 verlegt und lange vergriffen, wurde gerade neu herausgegeben, lässt Fans des Hirnpuddings strahlen, die deutschen Spitzenköche aber weitgehend kalt. Statt der Rezepte sind es eher die Zutaten, die den einen oder anderen zum Nachdenken bringen – vor allem dann, wenn sie einen gewissen Glamourfaktor mitbringen, wenn sie Tessiner Rotmais oder Bündner Gams heissen. «Wann immer möglich, nutze ich Produkte aus der Schweiz», erläutert Denis Ast, frischgebackener Sterne-Küchenchef im Winterthurer «Pearl», und rasselt gleich eine ganze Litanei herunter. «Bachforellen aus der Region, Zander aus dem Lago Maggiore oder sehr gutes Schweinefleisch.» Auch Luma-Beef hat er bereits ausprobiert, eines der schönsten Beispiele innovativer und cooler Schweizer Gourmetprodukte. Auf hiesige Köstlichkeiten hat es auch Tanja Grandits abgesehen, die Gault-Millau-Köchin des Jahres, die im Basler Stucki ihre schon legendären Ton-in-Ton-Tellergerichte reichen lässt. «Wir haben tolle Lieferanten von Schweizer Produkten», sagt die Deutsche, «es gibt eine unglaubliche Vielfalt.» Allerdings will sie keine streng regionale Küche praktizieren, weder was die Ingredienzien noch was die Rezepturen betrifft. «Ich nehme die Haupt- und Grundprodukte von hier», so Grandits, «aber ich möchte nicht auf Ingwer oder Olivenöl verzichten.» Und überhaupt, so wie ganz weit oben in Europa geht es eh nicht. «Was die Skandinavier mit ihrer Küche für einen Hype kreiert haben, kann nicht kopiert werden», sagt Rolf Fliegauf.

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Zumindest ein paar Zeichen für Fortschritt, für eine neue Wertschätzung der Schweizer Delikatessen und Zubereitungsmethoden gibt es aber doch. Im neuen «Käfer» in Basel serviert Küchenchef Benjamin Mohr zwar keine puristische Schweizer Haute Cuisine, aber eine, die sich als Alpenküche verortet und ihre Ideen aus der Schweiz und den umliegenden Gebieten bezieht: Bachforelle samt Flusskrebsen, Lardo und Petersilienwurzeln oder Schweizer Rind mit Erbsen-Gnocchi. Auch Christian Nickel nutzt im Vitznauer Park Hotel verfügbaren Freiraum. «Es ist immer wieder spannend, traditionelle Schweizer Gerichte modern zu interpretieren», so der Executive Chef. «Kaffee Träsch hiess zuletzt eine Dessertinterpretation, Suure Mocke haben wir aus Kalbsbacke hergestellt, sanft geschmort, und der Arme Ritter (Fotzelschnitte) ist schon längst eine bekannte Beilage zu Foie gras und Wild.»

Doch kaum jemand treibt es so intensiv schweizerisch wie Martin Göschel im hohen Osten. «Wir verwenden im Gourmetrestaurant L’Autezza etwa zu 70 Prozent Engadiner Produkte», schwärmt der Küchenchef des Ftaner Hotels Paradies. Der Grossteil des Restes stammt zumindest aus der Schweiz. Höchstselbst sucht Göschel heimische Kräuter zusammen, kombiniert Käseravioli mit Frutiger Kaviar. Steinbutt und Seeteufel werden durch Saibling oder Weinbergschnecken ersetzt, Stopfleber-Fans schauen in die Röhre und lassen sich mit Gruyère-Geflügel trösten. «Engadiner Rezepte sind aber eher im Zweitrestaurant zu finden», ergänzt Göschel. «Ansonsten wäre man nach zwei Gängen satt.» Dass die Schokolade, die anlässlich des Desserts, aber auch als Begleitung zum Käse (!) eine Rolle spielt, nicht in der Eidgenossenschaft fermentierte, ist da zu verschmerzen – und dass diverse Kombinationen eher auf verrückten Koch-Ideen als auf urigen Traditionen beruhen, ebenfalls.

Mit dem Kollegen Frank-Peter Scheffel würde sich Martin Göschel jedenfalls gut verstehen, während die Tester des Guide Michelin zu fremdeln scheinen. Gut möglich, dass die Berufsfutterer der roten Bibel mit einer derart konsequenten Interpretation des Themas Schweiz noch ein bisschen überfordert sind. Der zweite Stern jedenfalls, der dem «L’Autezza» nach Meinung vieler Gourmets längst zusteht, ist noch nicht aufgegangen. Was der Autor dieses Artikels, ein erklärter NSK-Fan, dann doch ziemlich frankozentriert und ganz schön dämlich findet.