23.11.2018 Salz & Pfeffer 8/2018

Die fetten Jahre sind zurück

Text: Sabrina Glanzmann – Fotos: Tina Sturzenegger / z. V. g.
Ganze Tiere zu verarbeiten, ist in der Gastronomie das Gebot der Stunde. Unter dem Motto Nose to Tail kriegen Schwein, Rind und Co. zunehmend auch ihr Fett weg.
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«Über Fett spricht kaum jemand, dabei ist es das Wertvollste, was ein Tier ausmacht.»
Tierisches Fett war über Jahrzehnte hinweg so etwas wie der Tunichtgut-Teenager unter den Nährstoffen: Zweifelhaft war sein Ruf, als ungesund galt sein Einfluss auf andere. Dieses Image entstand ab den Fünfzigerjahren, als Studien Übergewicht, erhöhte Cholesterinspiegel und Gefässkrankheiten mit Fettkonsum in Zusammenhang brachten. Light-Produkte und Margarine eroberten die Regale der Detailhändler, Fitnessteller die Karten der Restaurants. Schweine- oder Gänseschmalz? Jenseits von puristischen französischen Küchen hatten sie einen schweren Stand.

Nun tut sich etwas an der Fett-Front, seit neue Untersuchungen den Nährstoff im Grundsatz rehabilitieren. Dazu gehört etwa die 2017 veröffentlichte internationale Vergleichsstudie Pure. Die Forscher untersuchten während fast acht Jahren die Ernährungsgewohnheiten von 135 000 Menschen und protokollierten Krankheiten sowie Todesfälle. Das Ergebnis: Wer 35 Prozent des Energiebedarfs durch Fett abdeckt, hat ein um 23 Prozent geringeres Sterberisiko als Menschen, die weniger Fett essen. Dabei sei es sogar irrelevant, ob gesättigte oder ob einfach oder mehrfach ungesättigte Fettsäuren konsumiert würden.

Wer dagegen mindestens 68 Prozent seines Gesamtenergiebedarfs durch Kohlenhydrate abdeckt, dessen Sterberisiko erhöhe sich um 28 Prozent. Kritiker bemängelten an der Studie unter anderem den starken Fokus auf Entwicklungsländer und damit die Aussagekraft für das Essverhalten in unseren Breitengraden. Aber auch andere Analysen aus den letzten Jahren warnen vor einer pauschalen Verurteilung von Fett, und 2012 hob die Eidgenössische Ernährungskommission den empfohlenen Fettanteil an der Energiezufuhr bei Erwachsenen auf den Bereich von 20 bis zu 40 Prozent – «im Rahmen einer ausgewogenen Ernährung».

Spezifisch im Wandel ist auch das Image von tierischem Fett. «Gesättigte tierische Fette sind per se nicht schädlich, auch wenn der Ersatz durch ungesättigte pflanzliche Fette Vorteile bringt», sagt der Mediziner und Ernährungswissenschaftler David Fäh. Aus gesundheitlicher Sicht mache es keinen Unterschied, ob man Schmalz oder Palm- und Kokosöl verwendet; da Schweinefett auch recht viele ungesättigte Fette enthalte, schliesse es wahrscheinlich auch besser als Butter ab, so Fäh weiter. «Allerdings hängt die Zusammensetzung des Schmalzes auch stark davon ab, wie das Tier ernährt und gehalten wurde.»

Griebenschmalz als Markenzeichen
An diesem Punkt setzt Christoph Jenzer mit seinem Schmalz von Freilandschweinen an. «Fettanalysen zeigen, ob das Tier in intensiver Mast- oder extensiver Weidehaltung gelebt hat; bei einer Fütterung mit Gras statt Kraftfutter ist der Anteil von Omega-3-Fettsäuren deutlich höher», sagt der Metzger, der in Arlesheim bereits in vierter Generation das Familienunternehmen Jenzer Fleisch & Feinkost führt. Die Tiere für sein Schmalz bezieht er vom Gutsbetrieb der Strafanstalt Witzwil, der mit seiner Zucht und der antibiotikafreien Mast hierzulande als Pionier in der Freilandschweinehaltung gilt; 90 Prozent des Futters für die Tiere stammen aus hofeigenem Anbau.

«In der aktuellen Nose-to-Tail-Diskussion gehts meistens um Innereien und Second Cuts. Über Fett spricht kaum jemand, dabei ist es eigentlich das Wertvollste, was ein Tier ausmacht», sagt Jenzer. Zu Zeiten seines Grossvaters sei das Kilo Fett teurer gewesen als Filet, «man hatte Hunger und bezahlte für den grössten Brennwert». Heute werden die Schlachtfette mehrheitlich verbrannt, seit die Nachfrage seitens Lebensmittelindustrie und Bäckerbranche mit der Umstellung auf vegetarische Palmfette für Blätter- und Kuchenteige einbrach. Durch das Verbrennen entsteht CO2, was für Jenzer zusammen mit der Problematik um die Palmölgewinnung «gleich mehrfach ökologisch unsinnig ist, vom Food-Waste-Gedanken mal ganz abgesehen».

Schweineschmalz
Schweineschmalz
Gänseschmalz
Gänseschmalz
Griebenschmalz vom Schwein
Griebenschmalz vom Schwein
Schweineschmalz
Schweineschmalz
Wagyu Bratfett
Wagyu Bratfett

«Schmalz ist kontrovers; entweder man liebt oder man hasst es»
Bereits 2009 kam Jenzer darauf, wie er das Fett der Freilandschweine sinnvoll weiterverarbeiten kann. Damals beauftragte ihn der Gastrobetreiber Gastrag, für das neue Restaurant Kohlmanns in Basel ein Griebenschmalz zu entwickeln. Der Aufstrich aus ausgelassenem Schweinefett enthält im Gegensatz zum reinem Schweineschmalz noch die Speckresten. Zwiebel- und Apfelstückchen dienen häufig zum Verfeinern. Laut Grischa Cassini, der als Brand Manager bei der Gastrag AG tätig ist, war das Griebenschmalz von Anfang an Teil des Gesamtkonzeptes und des Storytellings für das Kohlmanns: Das Lokal erzählt die Geschichte des süddeutschen Johannes Kohlmann, der in Basel tagsüber als erfolgreicher Chemiker arbeitete und nachts am Funkgerät nach währschaften Rezepten für seine Sammlung suchte – und dabei auch auf Griebenschmalz stiess.

«2009 war der Aufstrich hierzulande kein Thema und wurde als Willkommensgruss zu frischem Holzofenbrot rasch zu unserem USP», erzählt Cassini. Heute verkauft das Lokal ganze Gläser davon, und die Stammgäste reklamieren, wenn das Schmalz auf dem Tisch fehlt. Allerdings sieht man im Kohlmanns von einem Ausbacken und Braten mit Schmalz ab: «In unserem Umfeld mit vielen Touristen, auch aus muslimischen Ländern, wäre das schwierig umsetzbar.»

Ebenfalls prima zum Gesamtkonzept passt die Verwendung von Schmalz im Restaurant Freibank in Bern. Im Waaghaus des ehemaligen Schlachthofs gelegen, setzt es auf eine ganzheitliche Fleischverarbeitung, um weniger beliebte Stücke stärker ins Bewusstsein zu rücken. Hier kommt Schmalz zum Einsatz, «wenn es beim Verarbeiten sowieso entsteht. Extra einkaufen würden wir es aber nicht», sagt Gastgeber Florian Jenzer. Schmalz wird also passend zur Philosophie nach Verfügbarkeit verwendet, etwa zum traditionellen Ausbacken von Rösti. Und Schweinebauch-Resten werden im Restaurant Freibank mit saisonalen Früchten kombiniert und zum Aufstrich für beispielsweise Apéros oder kalte Plättli verarbeitet.

Ravioli mit Wachtelschmalz
Für Jörg Slaschek vom Restaurant Attisholz im solothurnischen Riedholz ist es als gebürtiger Bayer selbstverständlich, Schmalz zu verwenden. «Es stimmt für mich nicht, von Nose to Tail zu sprechen und dann das tierische Fett aussen vor zu lassen», sagt der mit einem Michelin-Stern und 17 Gault-Millau-Punkten ausgezeichnete Koch. Im Attisholz wird selbst hergestelltes Schmalz aus den verschiedensten Fettresten vom Kaninchen bis zur Gans zur Zutat in Terrinen, an der Rösti oder im Zopf verarbeitet.

«Im Oktober hatten wir Wachtelravioli auf der Karte. Zur Füllung aus geschmortem Schenkelfleisch gaben wir Wachtelschmalz hinzu, was die Sämigkeit und den Geschmack sehr schön unterstützte.» Auch Griebenschmalz gehört in der kälteren Jahreszeit auf den Tisch. «Dessen Akzeptanz ist nicht zuletzt eine Kultur- und Altersfrage. Und mit dem steigenden Interesse der Schweizer an Ferien in Deutschland oder in Osteuropa wird die Neugier nach den kulinarischen Traditionen dieser Länder grösser, so wie es einst beim Olivenöl der Fall war», beobachtet Slaschek.

Flavio Fermi von der Osteria Tre im Bad Bubendorf Hotel bezieht bei Christoph Jenzer das reine, weisse Schweinefett und reichert es mit Walnüssen, Pistazien, Kümmel, Weinbeeren, Dörraprikosen und Gewürzen an. Den Aufstrich reicht der einfach besternte und mit 16 Punkten dotierte Küchenchef nebst einer Zitronenbutter und Frischkäse mit saisonalem Gemüse zum Brot. «Ich wollte etwas anbieten, das nicht jeder auf der Karte hat. Und Schmalz ist kontrovers; entweder man liebt oder man hasst es», sagt Fermi, der auch einen Bogen zu seinem kulinarischen Hintergrund schlagen will.

«In der italienischen Heimat meiner Grosseltern werden Schweine regelrecht verehrt, und deren ganzheitliche Verarbeitung ist sehr wichtig. Hier in der Nordwestschweiz ist Schwein in einem gehobenen Restaurant nach wie vor ein heikles Thema, wenn es nicht gerade ein Duroc oder Wollschwein ist. Rindsfilet im Hauptgang ist für viele noch immer die Erwartung.» Also baut er Schwein als Kontrapunkt ein – wenn es sich anbietet und auch überrascht. Auf Schmalz in der warmen Küche verzichtet Fermi allerdings und setzt beim Anbraten und Confieren vor allem auf Olivenöl. «Jeder Gast soll bei uns selbst entscheiden können, ob er Schmalz essen möchte oder nicht. Und ich freue mich sehr, dass es die meisten tun.»

Schmalz, Talg & Co.
Schmalz ist die Bezeichnung für das Schlachtfett von Schweinen und Geflügel. Auch geklärte Butter fällt unter den Begriff Schmalz. Bei Wiederkäuern spricht man von Talg.

Schweineschmalz wird meist aus dem Rückenspeck oder aus dem Bauchfell- und Nierenfett (Flomen) hergestellt. Seine Farbe ist perlmuttweiss mit einem Schmelzpunkt bei 26 bis 40 Grad. Besonders geeignet ist Schweineschmalz zum Braten und Schmoren sowie zum Backen, etwa als Zutat in geriebenen Teigen.

Griebenschmalz entsteht ebenfalls aus dem Speck von Schweinen, enthält aber noch die Reste der ausgebratenen Speckstücke (Grieben oder Grammeln). Es ist besonders beliebt als Brotaufstrich.

Gänseschmalz wird aus dem Brust- und Eingeweidefett geschmolzen. Anders als die meisten Fette oder Öle lässt sich Gänseschmalz auf bis über 200 Grad Celsius erhitzen, ohne dass krebserregende Stoffe entstehen. Es enthält mit rund 68 Gramm pro 100 Gramm Schmalz einen besonders hohen Anteil an einfach und mehrfach ungesättigten Fettsäuren.

Rindertalg kommt in der Küche vor allem als Bratfett zum Einsatz. Sein Schmelzpunkt liegt bei 45 bis 50 Grad. Bis in die Neunzigerjahre frittierte McDonald’s seine Pommes frites in Rinderfett und wechselte dann auf Druck von Konsumentenorganisationen zu pflanzlichem Fett. Seither ersetzt beim Fastfoodkonzern Rindfleischaroma den früheren Rindertalg. Zum Rezept von original belgischen Pommes gehört das zweimalige Frittieren in Rindernierenfett. Belgische Frites haben heute zum Beispiel das Restaurant Wanderruh in Basel oder der Foodtruck Chivito im Angebot. Die Metzgerei Jenzer in Arlesheim stellt seit Juni 2016 Rinderfett her und hat seither bereits eine Tonne davon gewonnen.