«Viele haben nicht den Mut, sich mit den Herstellungsprozessen zu beschäftigen.»
Sie heissen Bleifrei, Senza, Freibier oder Lola und kommen längst nicht mehr nur als gängige Lagerbiere daher, sondern auch mal als Coffee Porter, als India Pale oder als Ale, sind mal ober- und mal untergärig, oft kaltgehopft und öfters auch naturtrüb. Oder sie werden mit Ingwer gewürzt oder als Biermischgetränke in Kombination mit Fruchtsäften wie Rhabarber, Birne oder Apfel angeboten. Doch eins haben die Neukreationen gemeinsam: Sie enthalten keinen oder nur wirklich sehr wenig Alkohol. Und sie sind beliebt: Die Nachfrage nach alkoholfreien Bieren steigt stetig, ja, scheint in diesem Sommer im Handel umsatzmässig gar förmlich zu explodieren, beachtet man den Platz, den ihnen der Detailhandel mittlerweile einräumt. Dennoch – und das ist eine weitere Gemeinsamkeit – finden sie in der Gastronomie bis heute kaum Beachtung. Wirtinnen und Wirte scheinen alkoholfreie Biere zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.
Die durchwegs konservative Zurückhaltung der Gastronomie erinnert an viele Strömungen und Trends der vergangenen zwei Jahrzehnte, die lange richtiggehend verpennt wurden, während sich diese im Handel mit aller Wucht durchsetzten. Und mit denen Gross- und Kleinverteiler bereits hohe Umsätze erzielen. Beispiele dafür sind vegetarische wie auch vegane Speisen, aber auch Naturweine oder das rasant wachsende Angebot an zuckerarmen Softgetränken. Alles Bereiche, in denen sich die Gastronomie bis heute zu grossen Teilen irrational trotzig verhält. Nach dem Motto: Was ich nicht kenne, hat auch meinen Gast nicht zu interessieren. Oder wie der Wirt in einem Film von Josef Hader: Das ist kein Gast-, sondern ein Wirtshaus.
Auch in der Bierbranche gibt es noch viele Brauer, die sich für alkoholfreie Biere ähnlich wenig erwärmen können wie ein passionierter Radrennfahrer für ein E-Bike. Und die in den sozialen Netzwerken mit schier unbändiger Leidenschaft gegen die mit alkoholfreien Angeboten auftrumpfende Konkurrenz wettern. So wie mancher Fleischliebhaber den Veganismus als Zölibat des Gaumens verteufeln mag, scheinen viele Bierbrauer im alkoholfreien Bier das Zölibat der Leber zu fürchten.
Während die grossen und internationalen Brauereien sich dem Trend längst nicht mehr widersetzen können, bleiben die Kleinbrauereien äusserst zurückhaltend. «Viele haben schlicht nicht den Mut, sich mit den entsprechenden Herstellungsprozessen zu beschäftigen», sagt dazu der Zürcher Getränkeberater Joachim Seewer, der sich mit seiner Zilo GmbH auf die Entwicklung und Optimierung von Produktionsprozessen und die Implementierung neuer Biere und Softgetränke spezialisiert hat. Kleinbrauereien verfügen für das gängigste Verfahren zur Herstellung alkoholfreier Biere oft nicht über die Anlagen und müssen ihr Gebräu einem grösseren Brauer anvertrauen, der diesem den Alkohol entzieht. Dabei gebe es ein viel simpleres und weit kostengünstigeres Verfahren, so Seewer: «Alkoholfreies Bier kann genauso einfach hergestellt werden wie jedes andere Bier.» So nämlich, wie es der Schweizer Brauerei-Verband beschreibt: Bei dieser Variante wird die Gärung vorzeitig gestoppt, indem die Hefe aus der gärenden Bierwürze entfernt wird, oder es wird eine Hefe eingesetzt, die keinen Malzzucker vergärt, sodass die Gärung von alleine stoppt, sobald die wenigen anderen vergärbaren Zucker umgewandelt sind.
Hand in Hand mit der Zurückhaltung der Bierbranche geht auch jene der Gastronomie. Und dies, obwohl der Markt eine klare Sprache spricht. Im Vergleich zum Vorjahr stieg 2020 der Anteil des alkoholfreien Biers am gesamten schweizerischen Bierverbrauch trotz Lockdown und Gastrokrise von 3,7 auf 4,4 Prozent und machte damit seit 2010 den grössten Sprung überhaupt. Eindrücklich ist die Zahl in Litern ausgedrückt: Insgesamt tranken die Schweizerinnen und Schweizer im vergangenen Jahr 15 400 000 Liter alkoholfreies Bier. Und obwohl die Zahlen für das erste Semester 2021 noch fehlen, deutet alles darauf hin, dass das Wachstum exponentiell weiter steigen dürfte. Man schaue sich nur die Angebote der beiden orangen Riesen an, die in grossen Filialen bis zu einem Dutzend alkoholfreier Biere im Sortiment führen. Tendenz auch hier steigend.