18.06.2019 Salz & Pfeffer 4/2019

«Die Realität in die Schulstube tragen»

Interview: Tobias Hüberli – Fotos: Njazi Nivokazi
26 Jahre lang prägte Paul Nussbaumer als Direktor die Hotelfachschule Belvoirpark in Zürich. Im August geht er. Ein Gespräch über Theorie, Praxis und den Schüler von heute.
20190521-salz-und-pfeffer-boss-belvoir_26.jpg

«Respekt gegenüber Menschen ist absolute Grundvoraussetzung in diesem Beruf

Wie haben sich Ihre Schüler in den letzten 26 Jahren verändert?
Paul Nussbaumer: So wie die Gesellschaft im Allgemeinen: Man definiert sich nicht mehr einfach über die Arbeit und hat viel mehr Perspektiven. Klar, bestimmte Fähigkeiten, etwa das Rechnen oder die Lesekompetenz, sind inzwischen weniger ausgeprägt, dafür nehme ich die junge Generation als sehr neugierig wahr. Sie fragt nach, will den Sinn hinter den Dingen erkennen und ist nicht mehr so obrigkeitsgläubig, wie wir es mal waren.

Was ist eine sinnvolle Ausbildung?
Sie sollte jemandem im Arbeitsmarkt langfristig betrachtet sehr gute Chancen in einem breiten Umfeld öffnen.

Also in Ihrem Fall nicht mehr zwingend nur in der Hotellerie?
Richtig, das ist wohl die stärkste inhaltliche Veränderung der letzten 30 Jahre, wenn man das Konzept der Hotelfachschule betrachtet.

Erklären Sie.
Das Gastgewerbe ist etwas für junge Leute. Spätestens mit 35 Jahren kommt die Frage: Wie schaut mein Lebenskonzept aus? Will ich weiterhin dann arbeiten, wenn alle anderen frei haben? Der grosse Vorteil der Gastronomie und Hotellerie ist nun aber, dass man sehr jung tolle Karrieren machen und später mit den gesammelten Erfahrungen in einem anderen Berufsfeld Fuss fassen kann.

Haben Sie ein Beispiel?
In der Finanzwelt sind Leute aus der Hotellerie durchaus gefragt. Die Produkte der Banken sind im Grund alle ähnlich, sie heissen einfach unterschiedlich. Die grosse Frage ist: Wie kann man einen Kunden davon überzeugen, sich ans Unternehmen zu binden? Es sind die gleichen Themen, die wir in der Hotellerie haben. Von den Banken höre ich, dass man Mitarbeitern den fachlichen Finanzteil beibringen könne, nicht aber das Hospitality-Gen, die Kunst, mit den Leuten umzugehen. Auf diesen Punkt haben wir im Belvoirpark sehr früh gesetzt und gesagt: Wir müssen unseren Absolventen auf dem Arbeitsmarkt möglichst viele Perspektiven bieten.

Unter Ihrer Ägide stieg der Frauenanteil von zehn auf 50 Prozent. Wie erklären Sie sich das?
Wir beobachten dieses Wachstum seit den Neunzigerjahren. Die Branche ist für Frauen attraktiv, um eine gute Kaderstelle zu erreichen. Entscheidend ist aber, dass man diese Kaderstelle in einem Teilzeitpensum wahrnehmen kann.

Es gibt in der Schweiz eine Vielzahl von renommierten Hotelfachschulen. Wie erleben Sie den Konkurrenzkampf untereinander?
Die Hotelfachschule Lausanne hat als einzige Einrichtung des Landes den Status einer Fachhochschule. Sie ist dadurch aber auch ein total anderes Produkt und keine Konkurrenz für uns. Alle anderen staatlich anerkannten Schulen sind höhere Fachschulen. Dabei bietet der aktuelle Rahmenlehrplan allen genügend Freiraum, um sich zu positionieren.

Wie unterscheidet sich denn der Belvoirpark zum Beispiel von der Hotelfachschule SHL, die der Gewerkschaft Hotel & Gastro Union angehört?
Unsere Herkunft, der Arbeitgeberverband Gastrosuisse, prägt natürlich unsere Kultur und gibt einen gewissen Grundton vor. Dazu kommt die Art und Weise, wie die Schule aufgestellt ist, nämlich mit der Verbindung zum Restaurant Belvoirpark und dem Catering. Wir müssen das Geld erwirtschaften, das wir brauchen, und rennen dafür jedem Café crème hinterher. Letztlich bringt uns das aber die Management-Kompetenz. Die meisten Lehrpersonen bei uns leben das, was sie unterrichten, im Unternehmen auch vor. Das erzeugt eine fantastische Wechselwirkung, weil die Theorie immer die Praxis beflügelt und wir gleichzeitig die Realität direkt in die Schulstube tragen.

Sie sagten einst, der vor fünf Jahren realisierte Neubau lasse sich nur über zusätzliche Angebote finanzieren. Der Belvoirpark muss also wachsen.
Wir haben jetzt mehr Schulungsräume, die wir vermieten, und zusätzliche Seminare, die wir anbieten. In diesem Bereich müssen wir wachsen, das ist Teil der Finanzstrategie. Anders lässt sich so ein Projekt nicht bezahlen. Auch weil wir weder die Anzahl der Studierenden noch die Gebühren erhöht haben. Ein junger Mensch, der Koch oder einen anderen Beruf der Branche gelernt hat, muss sich diese Ausbildung leisten können, nachdem er ein paar Jahre bewusst gespart hat. Das Schulgeld für drei Jahre an der Belvoirpark-Schule kostet, wenn man alles miteinrechnet, 50 000 Franken. Es stellt sich schon die Frage, wer das finanziert? Es sind vermehrt die Eltern und nicht die Absolventen selbst, auch das hat sich stark verändert.

20190521-salz-und-pfeffer-boss-belvoir_24.jpg
20190521-salz-und-pfeffer-boss-belvoir_34.jpg

Apropos Veränderung, wie haben Sie den Prozess Ihrer Ablösung bis jetzt erlebt?
Gar nicht. Es war Sache des Vorstandes von Gastrosuisse, einen Nachfolger für mich zu finden. Daran war ich nicht beteiligt. Ich habe meine Nachfolgerin Ulrike Kuhnhenn kennen gelernt und werde sie ab Juni einarbeiten. Es ist klar, dass sie ihre eigenen Akzente setzen wird.

Welchen Rat geben Sie ihr auf den Weg?
Die Grundempfehlung, die man jeder neuen Führungskraft gibt, lautet: erst zuhören und nachfragen, warum etwas gemacht worden ist. Danach muss man entscheiden und einen eigenen Weg finden. Ich meinte, der grosse Wert dieser Schule ist die Verbindung von Theorie und Praxis. Sie ist aber gleichzeitig auch eine der grössten Herausforderungen. Ich bin überzeugt, dass man im Belvoirpark weiterhin den Mut haben muss, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Neben Ihnen bekleiden auch Ihre Frau Marlies und Ihr Sohn Dominique Raphael Kaderpositionen im Belvoirpark. Es scheint, Sie führten die Schule als Familienbetrieb.
Das kann man natürlich so sagen. Das Ganze ist allerdings eher zufällig gewachsen. Meine Frau war bereits vor mir im Haus und ist eine herausragende Gastgeberin. In 26 Jahren steigerte sie den Umsatz des Restaurants um den Faktor 2,5. Unser Sohn absolvierte einst die Ausbildung im Belvoirpark und baute später sehr erfolgreich unser Catering auf.

Bleiben die beiden?
Nein, alle Nussbaumers ziehen aus.

Reden wir übers Catering-Geschäft vom Belvoirpark. Was sagen Sie zum Vorwurf, Sie würden anderen das Geschäft vermiesen?
Ich hätte Verständnis für diese Betrachtungsweise, allerdings nur, wenn wir mit Dumpingpreisen im Markt auftreten würden. Und das können wir uns gar nicht leisten. Weil wir den Studenten etwas vormachen würden, was nicht der Realität entspricht. Ein gewisses «Gschnurr» ist in der Branche aber ein Stück weit normal.

Wenn es etwa heisst, Sie können mit Gratispersonal arbeiten?
Zum Beispiel, nur stimmt das alles nicht. Wir haben die gleichen, tendenziell sogar höheren Personalkosten. Wenn Sie alle vier Wochen neue Studenten einarbeiten, brauchen Sie ein wahnsinnig stabiles Netz von Kadermitarbeitern, um die Qualität zu halten.

Das Gastgewerbe leidet unter dem Fachkräftemangel. Fühlen Sie sich dafür verantwortlich?
Definitiv nicht. Wir versuchen im Gegenteil, mit welchem Erfolg lassen wir mal offen, in den Köpfen unserer Absolventen ein anderes Kulturverständnis aufzubauen. Niemand kann so gut kochen, dass wir dafür menschliches Fehlverhalten tolerieren würden. Ich habe schon Leute deswegen entlassen. Respekt gegenüber Menschen ist absolute Grundvoraussetzung in diesem Beruf. Wenn wir das den zukünftigen Kaderleuten vorleben, wird damit vielleicht auch die Branche als Ganzes attraktiver.

Der Fachkräftemangel ist also auch eine Folge fehlender Wertschätzung?
Sicher zu einem Teil. Natürlich spielen auch die Arbeitszeiten und die tiefen Löhne eine Rolle. Wir alle würden gerne mit guten Arbeitsbedingungen brillieren, aber die Gastronomie ist nun mal ein Rappengeschäft. Darum muss man den Jungen die Chance bieten, sich zu entwickeln. Und man muss akzeptieren, dass sie die Branche auch wieder verlassen werden. Aber es ist doch toll, dass sich immer wieder junge Menschen für die Gastronomie entscheiden, mindestens für eine Phase ihres Lebens.

Paul Nussbaumer (65) wuchs im Zürcher Enge-Quartier, ganz in der Nähe der Belvoirpark Hotelfachschule, auf, zuerst in einer Metzgerei und später im Restaurant Weisser Rabe. Bereits als Kind half er im elterlichen Betrieb mit. Nach der Kochlehre arbeitete Nussbaumer unter anderem im Hotel Sonnenberg in Zürich sowie in der Konditorei Treichler in Zug. 1973 heuerte er beim damaligen Wirteverband an und wurde 1993 mit 39 Jahren zum Direktor der Belvoirpark Hotelfachschule Zürich gewählt. In den folgenden 26 Jahren baute Nussbaumer nicht nur das Angebot der 1925 gegründeten Bildungseinrichtung kontinuierlich aus, sondern initiierte und betreute auch den 33 Millionen Franken teuren Neubau, der 2014 fertiggestellt wurde. Im August übergibt Paul Nussbaumer die Leitung an seine Nachfolgerin Ulrike Kuhnhenn.