«Mein Vorteil ist, dass ich weiss, wie man Fleisch deutet.»
Dass das Trocknen von Fleisch, wenn man es naturbelassen praktiziert, alle Sinne fordert, macht Tanya Giovanoli beim Rundgang durch ihren Betrieb mehrfach deutlich. Zum Beispiel mit der Anekdote von der ersten Besichtigung des damals leer stehenden Hotels Adler in Reichenau, in dem sie inzwischen wohnt und arbeitet. «Als keiner hinschaute», erinnert sie sich, «nahm ich eine Schleckprobe von der Kellermauer.» Das mag seltsam klingen, war für die 41-jährige Metzgerin aber ein entscheidender Test. «Danach wusste ich, dass sich das Gewölbe zum Fleischtrocknen eignet: Die Wand schmeckte nach dem Edelhefepilz, den es dafür braucht.»
Ihre Einschätzung bestätigt heute, was im Keller hängt: Giovanoli wirft einen prüfenden Blick auf die aufgereihten Würste, riecht daran, klopft sie ab, hört hin und nickt zufrieden. Beinahe zärtlich streicht sie über den weissen Flaum, der das Fleisch überzieht, mit sanftem Druck beurteilt sie, ob die Feuchtigkeit stimmt. Thermo- und Hygrometer an der Wand sind Formsache. «Sie bestätigen, was mir mein Gefühl eh schon sagt», erklärt die Expertin. Und attestiert schliesslich: «Das kommt gut.»
In der Tat, das tut es. Ob Salsiz, Salami oder Salametti, ob Binde, Rillette oder Schinken, ob Blut-, Leber- oder Bratwurst: Was Giovanoli seit letztem Jahr mit ihrer Firma Meat Design auf den Markt bringt, begeistert Feinschmecker im ganzen Land. Ihre Version der kalabrischen Streichsalami Nduja etwa zählt längst eine illustre Schar bekennender Fans. Den Senkrechtstart verdankt die gewiefte Unternehmerin ihrem kompromisslosen Bekenntnis zur Qualität, ihrer Verbundenheit zum Brauchtum und ihrer doch überraschenden Art, traditionelle Spezialitäten zu interpretieren. Sie pflegt das Metzgerhandwerk in alter Manier, verwendet reine Hanfschnüre und Naturdärme, setzt auf natürliche Reifung und kommt ohne Pökelsalz oder Chemie aus. Ausserdem ist Giovanolis Engagement in der Fleischveredelung nichts weniger als die logische Konsequenz ihrer bisherigen Geschichte.
Als Tochter des legendären Metzgers Renato Giovanoli wuchs sie in Pila, einem Weiler bei Maloja im Oberengadin, auf. Schon der Urgrossvater war Fleischer gewesen, die Familie hielt die Handwerkstradition stets hoch, und zur Kindheit gehörten die Tiere auf dem Hof genauso wie das Schlachten von ebendiesen. Von klein auf stand Giovanoli in der Metzgerei – mit Gummistiefeln an den Füssen, dem Nuggi im Mund und einem Messer in der Hand, das beinahe so gross war wie sie selbst. Heute ist es ihre siebenjährige Tochter Zora, die mit Vorliebe Fleisch durch den Wolf dreht. «Wenn ich sie sehe, verstehe ich schon, dass die Leute damals schräg schauten», sagt Giovanoli und lacht. «Aber für mich war Wursten immer wie Basteln.»
Nach der Metzgerlehre, die sie bei Schiesser in Chur absolvierte, holte Giovanoli das Gymnasium nach und studierte Betriebswirtschaft. Die Ausbildung finanzierte sie sich mit der Produktion von Bratwürsten, (Grieben-)Schmalz, Konfitüren oder Sirup, die sie im Geschäft des Vaters feilbot. Anschliessend besetzte sie verschiedene Positionen in der Privatwirtschaft, hauptsächlich in der Modebranche und zuletzt bei Sunrise. Heute profitiert sie von diesen Erfahrungen: In Bereichen wie Prozess- und Qualitätsmanagement oder Betriebsführung sitzt Giovanoli fest im Sattel. «Ich bin für die Selbstständigkeit gewappnet.»