01.09.2020 Salz & Pfeffer 5/2020

Die Wurst im Blut

Text: Sarah Kohler – Fotos: Njazi Nivokazi
Seit einem Jahr produziert Tanya Giovanoli im ehemaligen Schlosshotel von Reichenau Fleischspezialitäten für den anspruchsvollen Gaumen. Damit schreibt sie die Familiengeschichte weiter – schlägt aber ihr eigenes Kapitel auf.
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«Mein Vorteil ist, dass ich weiss, wie man Fleisch deutet.» 

Dass das Trocknen von Fleisch, wenn man es naturbelassen praktiziert, alle Sinne fordert, macht Tanya Giovanoli beim Rundgang durch ihren Betrieb mehrfach deutlich. Zum Beispiel mit der Anekdote von der ersten Besichtigung des damals leer stehenden Hotels Adler in Reichenau, in dem sie inzwischen wohnt und arbeitet. «Als keiner hinschaute», erinnert sie sich, «nahm ich eine Schleckprobe von der Kellermauer.» Das mag seltsam klingen, war für die 41-jährige Metzgerin aber ein entscheidender Test. «Danach wusste ich, dass sich das Gewölbe zum Fleischtrocknen eignet: Die Wand schmeckte nach dem Edelhefepilz, den es dafür braucht.»

Ihre Einschätzung bestätigt heute, was im Keller hängt: Giovanoli wirft einen prüfenden Blick auf die aufgereihten Würste, riecht daran, klopft sie ab, hört hin und nickt zufrieden. Beinahe zärtlich streicht sie über den weissen Flaum, der das Fleisch überzieht, mit sanftem Druck beurteilt sie, ob die Feuchtigkeit stimmt. Thermo- und Hygrometer an der Wand sind Formsache. «Sie bestätigen, was mir mein Gefühl eh schon sagt», erklärt die Expertin. Und attestiert schliesslich: «Das kommt gut.»

In der Tat, das tut es. Ob Salsiz, Salami oder Salametti, ob Binde, Rillette oder Schinken, ob Blut-, Leber- oder Bratwurst: Was Giovanoli seit letztem Jahr mit ihrer Firma Meat Design auf den Markt bringt, begeistert Feinschmecker im ganzen Land. Ihre Version der kalabrischen Streichsalami Nduja etwa zählt längst eine illustre Schar bekennender Fans. Den Senkrechtstart verdankt die gewiefte Unternehmerin ihrem kompromisslosen Bekenntnis zur Qualität, ihrer Verbundenheit zum Brauchtum und ihrer doch überraschenden Art, traditionelle Spezialitäten zu interpretieren. Sie pflegt das Metzgerhandwerk in alter Manier, verwendet reine Hanfschnüre und Naturdärme, setzt auf natürliche Reifung und kommt ohne Pökelsalz oder Chemie aus. Ausserdem ist Giovanolis Engagement in der Fleischveredelung nichts weniger als die logische Konsequenz ihrer bisherigen Geschichte.

Als Tochter des legendären Metzgers Renato Giovanoli wuchs sie in Pila, einem Weiler bei Maloja im Oberengadin, auf. Schon der Urgrossvater war Fleischer gewesen, die Familie hielt die Handwerkstradition stets hoch, und zur Kindheit gehörten die Tiere auf dem Hof genauso wie das Schlachten von ebendiesen. Von klein auf stand Giovanoli in der Metzgerei – mit Gummistiefeln an den Füssen, dem Nuggi im Mund und einem Messer in der Hand, das beinahe so gross war wie sie selbst. Heute ist es ihre siebenjährige Tochter Zora, die mit Vorliebe Fleisch durch den Wolf dreht. «Wenn ich sie sehe, verstehe ich schon, dass die Leute damals schräg schauten», sagt Giovanoli und lacht. «Aber für mich war Wursten immer wie Basteln.»

Nach der Metzgerlehre, die sie bei Schiesser in Chur absolvierte, holte Giovanoli das Gymnasium nach und studierte Betriebswirtschaft. Die Ausbildung finanzierte sie sich mit der Produktion von Bratwürsten, (Grieben-)Schmalz, Konfitüren oder Sirup, die sie im Geschäft des Vaters feilbot. Anschliessend besetzte sie verschiedene Positionen in der Privatwirtschaft, hauptsächlich in der Modebranche und zuletzt bei Sunrise. Heute profitiert sie von diesen Erfahrungen: In Bereichen wie Prozess- und Qualitätsmanagement oder Betriebsführung sitzt Giovanoli fest im Sattel. «Ich bin für die Selbstständigkeit gewappnet.»

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Und doch, mit dem eigenen Geschäft liess sich die Metzgerin Zeit. «Die Idee gärte schon lange», erzählt sie. «Aber ich hatte lange Angst, mich zu binden: an einen Ort, an Material, an eine finanzielle Investition.» Über Jahre produzierte sie «nur nebenbei» Würste und mehr für sich, für Familie und Freunde. «Viele von ihnen ermutigten mich, das professionell zu machen», sagt Giovanoli. «Aber erst vor einem Jahr war die Zeit dafür reif.»

Heute ist sie gefestigt genug, um sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. «Ich bin ein Bauchmensch», betont sie. «Und obschon man immer etwas besser machen kann, bin ich überzeugt von dem, was ich tue.» Damit räumt die zierliche Kämpfernatur in der Männerdomäne auch bei anderen alle Zweifel aus: «Ich sehe nicht aus wie eine Metzgerin, aber man nimmt mich rasch ernst.» Allfälligen Vorbehalten begegnet Giovanoli mit Humor – auch das die Folge jahrelanger Erfahrung: Als sie früher mit ihren Brüdern und dem Vater auf Messen unterwegs war, um Maschinen zu kaufen, wurde sie regelmässig ignoriert. «Bis Papa den Händlern jeweils sagte: ‹Wenn Sie was verkaufen wollen, müssen Sie mit ihr reden.›»

Ihr Verhandlungsgeschick paart Giovanoli heute mit einer konsequenten Philosophie, die auch auf einem engen Verhältnis zu den Lieferanten basiert. «Mein Fokus liegt dabei auf der Qualität, nicht auf Labels», sagt sie. Das Fleisch, das sie verarbeitet, stammt hauptsächlich aus der Südostschweiz und nicht selten vom Bauern direkt. «Mein Vorteil ist, dass ich weiss, wie man Fleisch deutet», erklärt die Metzgerin. So erkenne sie beispielsweise an den unversehrten Schweineköpfen und -schwänzen, die sie für ihre Beinwürste bestellt, wie gut es den Tieren zu Lebzeiten ergangen sei: «In einer schlechten Umgebung hätten sie einander angefressen.»

Neben Fleisch aus tiergerechter Haltung steckt in Giovanolis Kreationen eine Menge Experimentierfreude: Regelmässig kreiert sie Neues, probiert sich auch in Kooperation mit anderen Lebensmittelherstellern aus und scheint in ihrem Enthusiasmus kaum zu bremsen. «Meine Sachen richten sich an anspruchsvolle, kulinarisch interessierte Menschen», sagt sie. Immer mehr Aufmerksamkeit erhält sie auch aus der Gastronomie: In Restaurants wie dem Neumarkt oder der Ziegelhütte in Zürich, dem Vista in Sagogn oder dem Bellini in Luzern sind ihre Spezialitäten bereits anzutreffen. Ein erklärter Fan ist auch Giovanolis Vermieter in Reichenau, Schlossherr Gian-Battista von Tscharner. «Er sagte mir, wenn ich eine genauso gute Leberwurst mache, wie es mein Vater tat, könne ich hier einziehen», erzählt die Metzgerin. Ein Glück: Sie produziert sie tatsächlich in alter Familientradition (nämlich wie eine Salami). Ansonsten sind ihre Rezepturen geheim. «Das ist wichtig, weil es zwischen mir und meinen Produkten kaum eine Grenze gibt: In ihnen steckt immer auch ein Stück meines Herzens.» Giovanoli lacht: «Wenns darum geht, ist mein Herz ganz schön gross.»

Meat Design
Reichenauerstrasse 58, 7015 Reichenau
meatdesign.ch