«Ich störe mich daran, dass wir weibliche Küchenchefs so stark promoten müssen.»
Ihr Ende 2019 eröffnetes Restaurant Lola in Kopenhagen hat einen sozialen Fokus, sagen Sie. Was bedeutet das konkret?
Kamilla Seidler: Wir starteten ein Unternehmen, das mehr Ziele hat, als nur Geld zu verdienen. Das können ganz unterschiedliche Dinge sein. Eines der Projekte des Restaurants ist es etwa, zu versuchen, Menschen zurück in die Arbeitswelt zu führen, die es sonst nicht schaffen würden. Dann bieten wir Trainings für Mädchen an, die in der Schule nicht still sitzen können. Und wir versuchen, so viele vegetarische Gerichte auf dem Menü zu haben wie möglich. Es ist ein bisschen von allem.
Wie haben die Gäste darauf reagiert?
So lange die Leute gut essen und der Service stimmt, sind sie glücklich. Wenn sie sich für die sozialen Aspekte unserer Arbeit interessieren, reden wir gern darüber, wenn nicht, können sie einfach bei uns essen und einen schönen Abend verbringen. Wir sind keine Kirche. Man kann auch einfach Spass bei uns haben.
Im Februar 2018 kehrten Sie nach Dänemark zurück. Was haben Sie bis zur Eröffnung des Lola gemacht?
Ich arbeitete für eine NGO namens The Food Organisation of Denmark. Wir reisten mit einem Team durchs Land und versuchten, den Standard der Gastronomie in abgelegenen Regionen zu erhöhen. Der Fokus lag vor allem auf saisonalen Betrieben, die mit viel Frittiertem arbeiten und hauptsächlich vom Tourismus leben. Sie arbeiten oft mit TK-Produkten und haben Schwierigkeiten, aus diesem Kreislauf rauszukommen. Wir halfen ihnen dabei. Das war eine superwichtige Aufgabe, denn oft tun Menschen 40 Jahre lang das Gleiche mit der Begründung, dass die Gäste es so wollen. Aber eigentlich kaufen die Gäste die Pommes frites nur, weil es nichts anderes gibt. Ein Teufelskreis.
Was halten Sie von der Neuen Nordischen Küche?
Viele Punkte des Manifests der Neuen Nordischen Küche sind logisch, etwa jener, mit lokalen und saisonalen Produkten zu arbeiten, mit Respekt für die Produzenten. Sehr wichtig war die Entscheidung, dass man gemeinsam an diesen Ideen arbeiten will.
Die Küche im Lola ist im Gegensatz sehr international. Das Angebot reicht von Ceviche bis zu Naan.
Damit wollen wir die Mitglieder des Teams ehren. Es geht mir auch darum, möglichst viele Kochtechniken anzuwenden, die sich von Land zu Land unterscheiden. Wir haben einen starken thailändischen Einfluss, weil einige Köche in Bangkok gearbeitet haben. Ein gutes Beispiel dafür, wie wir denken, ist der klassische grüne Papayasalat. Wir haben dieses Gericht «vernordlicht», indem wir mit einer dänischen Fischsauce arbeiten. Und statt Papaya verwenden wir Rande.
Ihr Restaurant soll sich nicht nur um die Gäste, sondern auch um die Mitarbeiter kümmern. Was meinen Sie damit?
Die Gastronomie ist nicht sehr attraktiv. In Dänemark öffnen ständig neue Restaurants, aber es gibt nicht genügend Fachkräfte. Das Problem ist, dass man schlecht bezahlt wird und arbeiten muss wie ein Esel. Im Lola implementierten wir Acht-Stunden-Arbeitstage zu normalen Zeiten. Unsere Mitarbeiter müssen noch ein Leben haben. Entweder man arbeitet am Morgen und geht am Nachmittag, oder man startet am Nachmittag und arbeitet bis am Abend. Zudem rotieren wir die Schichten ständig.
Und das rentiert?
Wir machen nicht viel Geld, aber genug, um über die Runden zu kommen. Das war das Ziel. Das Restaurant muss nachhaltig sein, ökonomisch, aber auch sozial.
Claus Meyer, Mitbegründer des Restaurants Noma, brachte Sie 2013 nach Bolivien. Welche Rolle spielte er in Ihrer Karriere?
Mit ihm zu arbeiten, ist immer sehr inspirierend, er ist ein Visionär. Er sagt einem nicht, welche Schritte man gehen soll, aber er sieht das Ziel. Wie man dorthin gelangen könnte, muss man selbst herausfinden. In Bolivien presste er das Modell einer klassischen NGO in ein Restaurant, das profitabel arbeitet. Ich kam damals in eine komplett fremde Kultur, mit Produkten, die ich noch nie gesehen hatte, und musste nicht nur eine Küche führen, sondern auch noch 30 Studenten ausbilden.
2016 wurden Sie im Restaurant Gustu zur besten Küchenchefin Lateinamerikas gekürt. Was bedeutet Ihnen dieser Titel?
Eigentlich störe ich mich daran, dass wir weibliche Küchenchefs so stark promoten müssen. Wenn ich einen Raum betrete, sehe ich nicht drei Frauen und vier Männer, sondern einfach sieben Menschen. Auf der anderen Seite: Wenn wir diese Diskussion nicht führen, wird sich in der Männer-dominierten Welt nie etwas ändern. Und das Problem beschränkt sich ja bekanntlich nicht auf die Gastronomie. Wir brauchen dringend eine seriöse Diskussion darüber.
Die Organisatoren des St. Moritz Gourmet Festival luden dieses Jahr nur Gastköchinnen ein. Ein Anfang?
Die lokalen Küchenchefs in St. Moritz waren ausschliesslich Männer. Es war also 50:50, würde ich sagen. Und trotzdem, ich hatte dort das Glück, an viele Events eingeladen zu werden, mein Gesicht war auf den Plakaten ausserhalb der Hotels abgebildet, mein Name stand im Programm. Aber als wir im Hotel eincheckten, war die Reservation auf den Namen meines Freundes gemacht worden, weil er ein Mann ist. Das zeigt einfach: Auch wenn wir versuchen, uns zu ändern, moderner zu werden, ist die Gesellschaft immer noch patriarchalisch ausgerichtet.
Wieso haben Sie Bolivien verlassen?
Ich sollte dort nur für ein Jahr bleiben, letztlich wurden daraus sechs. Irgendwann musste ich eine Entscheidung treffen: EntweEntweder bleibe ich für den Rest meines Lebens, oder ich ziehe weiter. Ich war damals 34 Jahre alt.
Was gab den Ausschlag?
Meine Freunde und meine Familie sind in Dänemark. Bolivien ist sehr weit weg von meinen Wurzeln. Natürlich habe ich viele liebenswürdige Menschen kennen gelernt, aber es ist nicht meine Heimat.
Ihre Karriere führte Sie um den ganzen Planeten. Wie wichtig sind Ihre Wurzeln für Sie?
Sie werden immer wichtiger, je älter ich werde. Ich hatte stets Freude, Neues zu entdecken. Ich war in Spanien, England oder Bolivien, ohne Heimweh zu verspüren. Aber mit den Jahren wünsche ich mir, vielleicht nicht bequem, aber sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen.
Was haben Sie sich für die Zukunft vorgenommen?
Glücklich zu sein.