«Wir erfassen, welche Sorten hierzulande wachsen, und wollen wissen, was davon erhaltenswert ist.»
Es ist ein regnerischer Morgen im August. Der Himmel tränkt die Felder, lässt die Hitze vom Vortag verdampfen und das Wasser geräuschvoll auf die Dächer der Treibhäuser prasseln. Es ist Erntezeit im Chablais südlich des Genfersees. Dort, wo zerklüftete Berghänge auf fruchtbare Talebenen und die Kantone Wallis und Waadt aufeinandertreffen, gedeihen nebst charakterstarken Reben auch Auberginen. Felsen, die das Sonnenlicht reflektieren, und die warmen Föhnwinde aus dem Wallis sorgen für ein überdurchschnittlich mildes Klima, das der Frucht gut bekommt. Sonst wird sie in der Schweiz nur noch im Tessin angebaut, allerdings auch hier meist in Gewächshäusern, denn die Aubergine verzeiht keine Kälteschocks.
Auberginen im Tomaten-Look
Im Hinterland des Genfersees ist auch die Familie Zollinger beheimatet. Ursprünglich aus dem Thurgau, haben die auf Bio-Saatgut spezialisierten Samenzüchter ihr Unternehmen vor 25 Jahren hierhin verlegt. Mittlerweile ist die zweite Generation mit Tulipan, Til und Tizian Zollinger am Ruder. Im Auftrag des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW) widmen die drei Brüder der Aubergine heuer ein spezielles Experiment. Im vergangenen Jahr hatten sie ziemlich jeden in der Schweiz angeschrieben, der mit der Frucht etwas am Hut hat, Schrebergärtner bis Grossanbauer um Pflanzensamen gebeten, die sie im vergangenen Februar aussäten. Das Resultat kann sich sehen lassen: Nicht weniger als 42 verschiedene Aubergine-Arten sind im Versuchsgewächshaus gediehen. Hundskommune wie die grosse Black Beauty, die wir aus dem Supermarkt kennen, winzige wie die Erbsen-Aubergine, die in indischen Currys Verwendung findet, oder runde grüne wie die robuste Bergaubergine aus Mexiko. Mitunter hat der Versuch auch sonderbare Blüten getrieben: Bambino, eine Aubergine in Miniaturausgabe, mutet an wie eine Weintraube, während die Nachbarspflanze, eine äthiopische Sorte, Früchte produziert, die das Auge mit einer Tomate verwechselt.
Der Tresor für Ernährungssicherheit
Ziel dieses Projekts sei eine Art Bestandesaufnahme, sagt Tulipan Zollinger: «Wir erfassen, welche Sorten hierzulande wachsen, und wollen wissen, was davon erhaltenswert ist.» Im Auftrag des BLW führen die Zollingers regelmässig solche Versuche durch, in den Vorjahren waren Nüsslisalat, Gurken oder Peperoni an der Reihe. Nun steht die Aubergine im Fokus: Jede aus dem Experiment hervorgegangene Sorte wird nach einer Vielzahl agronomischer Kriterien bewertet, so spielen beispielsweise die Wuchshöhe oder der Ertrag eine Rolle. Auch kulinarische Eigenschaften fallen ins Gewicht. Von Sorten, die in beiden Kategorien überzeugen, werden die Samen anschliessend in der nationalen Genbank von Agroscope in Changins eingelagert – sie gelten als erhaltenswert. Agroscope ist das Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung, seine Genbank ist seit 1900 in Betrieb und umfasst fast 11 000 alte und moderne Pflanzensorten in Form von Saatgut. Dieser Tresor soll sicherstellen, dass das Genmaterial wichtiger Kulturpflanzen verfügbar bleibt, der gigantische Genpool ermöglicht im Bedarfsfall aber auch effiziente Testverfahren mit hoher Stichprobenzahl, falls die Landwirtschaft mit neuen Pflanzenkrankheiten oder klimatischen Herausforderungen konfrontiert wird.
Von fruchtig bis scharf
In Geschmacksfragen ziehen die Gebrüder Zollinger gerne einen jungen Koch und alten Freund zu Rate: Benjamin Le Maguet lotet nicht nur an der offiziellen Verkostung der Auberginen das kulinarische Potenzial aller 42 Sorten aus, sondern kommt auch an diesem Morgen ins Treibhaus, um sich mit Früchten für ein nächstes Kulinarikexperiment einzudecken.