«Mit der Hühner-Industrie stimmt so einiges nicht.»
Mit Ihrem neuen Projekt Huhn + Hahn möchten Sie konkrete Probleme angehen. Welche sind das?
Anna Pearson: Ich muss etwas ausholen: Hühnerfleisch, wie es heute in Schweizer Läden und Restaurants verbreitet ist, stammt vom Masthuhn, das nur für sein Fleisch, insbesondere für sein Brustfleisch, gezüchtet wird. Dieses Huhn ist auf maximale Effizienz getrimmt: In nur einem Monat erreicht es sein Schlachtgewicht. Es ist sozusagen ein Baby im Körper eines Sumoringers. Das extreme Wachstum sorgt für viel Tierleid: So kann das Huhn am Ende seines kurzen Lebens kaum mehr gehen. Zum Vergleich: Vor 70 Jahren dauerte das Leben eines Masthuhns viermal länger. Problematisch ist auch das energiereiche Futter, das diese Hochleistungstiere benötigen: Für den Anbau von Soja, Mais und Getreide werden weltweit Wälder abgeholzt und Ackerflächen beansprucht, die ohne den ineffizienten Umweg über das Huhn viel mehr Menschen ernähren könnten. Für die Menschen im globalen Süden ist das ein grosses Problem – unsere Hühner fressen ihnen buchstäblich das Essen vom Teller.
Es gibt ja aber nicht nur das Masthuhn.
Richtig. Sondern auch Legehennen für die Eierproduktion, die so gezüchtet sind, dass sie übermässig viele Eier produzieren, dafür aber kaum Fleisch ansetzen. Sie sind wahre Knochengerüste. Die männlichen Küken, also die Brüder der Legehennen, sind für die Industrie deshalb wertlos und landen in der Biogasanlage. Kurz gesagt: Mit der Hühner-Industrie stimmt so einiges nicht. Aktuell folgen wir bei der Produktion von Pouletfleisch und Eiern der Logik einer industrialisierten Landwirtschaft, zum Schaden von Umwelt, Tier und den Menschen im globalen Süden.
Und was ist nun Ihr Ansatz, um dem entgegenzuhalten?
Ich setze mich für Hühnerrassen ein, die nicht von der Industrie in die eine oder andere Extreme gezüchtet wurden: für sogenannte Zweinutzungshühner. Das sind Hühner, die wie früher sowohl Eier legen, als auch Fleisch ansetzen – beides jedoch in einem für das Tier verträglichen Mass. Aus diesem Grund kommen solche Hühner mit einfacherem Futter zurecht, etwa mit Nebenprodukten aus der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie, sie brauchen kein Sojaprotein. Dieser Punkt ist zentral: Tiere sollten mit ihrem Futterbedarf nicht die menschliche Ernährung konkurrenzieren. Zweinutzungshühner liefern gute Eier und schmackhaftes Fleisch, dessen Zubereitung allerdings etwas Arbeit und Know-how braucht.
Was bedeutet das?
Das Fleisch von Masthühnern ist geschmacklich fade und hat eine langweilige Konsistenz – aber es ist einfach zuzubereiten, weil es von Kopf bis Fuss zart ist. Zweinutzungshühner haben aromatisches Fleisch, das in den viel beanspruchten Schenkeln eine dichtere Struktur hat als das zarte Brustfleisch. Sie eignen sich also nicht für die exakt gleichen Zubereitungsarten, wie wir sie vom Poulet gewohnt sind. So verlangen die verschiedenen Stücke nach unterschiedlichen Zubereitungsmethoden und Garzeiten. Schauen wir nach Frankreich, wo Geflügel nicht als billiges Fleisch gilt, sondern als hochwertige Spezialität wertgeschätzt wird – denken wir etwa an die bekannten Bresse-Hühner, die deutlich älter geschlachtet werden als unsere «Industrie-Poulets»: In guten Restaurants kommt ein solches Huhn zerlegt und zur Perfektion zubereitet in zwei Gängen auf den Tisch. Zuerst wird die zarte Brust serviert, später folgen die Schenkel, die etwas mehr Zeit im Ofen benötigen. Da liegt der Knackpunkt: Hühner, die keine verfetteten Babys sind, kann man nicht wie gewohnt als Ganzes zubereiten. Die Brust, die Schenkel, das restliche Fleisch: Jedes Stück eignet sich für eine andere Delikatesse. Aber wie das geht, haben wir in der Schweiz vergessen. Die Schenkel vom Zweinutzungshuhn schmort man am besten: Gerichte wie Coq au vin, Tajine oder Curry eignen sich perfekt für das aromatische, dichte Fleisch. Ich möchte dieses Wissen neu aufbereitet wieder zugänglich machen.
Im Bioladen zum Beispiel gibt es Fleisch vom Bruderhahn. Inwiefern unterscheidet sich dieser vom Zweinutzungshahn?
Bruderhähne sind die Brüder moderner Legehennen, die genetisch bedingt kaum Fleisch ansetzen. Anstatt sie direkt nach dem Schlüpfen zu töten, werden sie im Bio-Bereich immer öfter aufgezogen und für ihr Fleisch geschlachtet. In Bezug auf die Umwelt und die soziale Gerechtigkeit macht dieser Ansatz wenig Sinn, da Bruderhähne trotz des geringen Fleisch-Ansatzes sehr viel fressen. Ich plädiere für einen ganzheitlichen Ansatz, der alle Aspekte berücksichtigt und nicht nur ein einziges Symptom bekämpft. Dafür müssen wir von den industriell gezüchteten Hochleistungshühnern wegkommen, unseren Konsum reduzieren und nochmals neu mit Geflügel kochen lernen. Wir Konsumenten und Konsumentinnen müssen uns der Natur anpassen – nicht umgekehrt!