25.09.2018 Salz & Pfeffer 6/2018

Eine Nummer für sich

Interview: Tobias Hüberli – Fotos: Stefan Kaiser
Neun Jahre lang lernte Jeroen Achtien im Drei-Sterne-Restaurant von Jonnie Boer. Im April gab er sein Debüt als Küchenchef im Restaurant Sens im Hotel Vitznauerhof. Besuch bei einem Hochtalentierten.
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«Jetzt will ich so kochen, wie ich will.»

Als Küchenchef von Jonnie Boer standen Ihnen viele Türen offen. Warum haben Sie ausgerechnet das Restaurant Sens in Vitznau für Ihr Debüt ausgewählt? 
Jeroen Achtien: Zu meinen Aufgaben im Restaurant De Librije von Jonnie Boer gehörte auch die Umsetzung des Gourmetmenüs Taste of De Librije auf den Kreuzfahrtschiffen der Holland American Line. Dort lernte ich Executive Travel Chef Robert Schumann kennen, den Vater von Karim Schumann, meinem Vorgänger hier im Restaurant Sens. So führte das eine zum andern.

Erzählen Sie.
Ich wusste von Robert Schumann, dass hier eine Stelle frei wird. Die Schweiz kannte ich ein bisschen, da ich mit Jonnie Boer Caterings in Lugano ausrichten durfte. Letztes Jahr während der Sommerferien war ich mit meiner Freundin bei Tanja Grandits essen. Wir reisten weiter zu Massimo Bottura, legten auf dem Weg aber spontan einen Stopp im Vitznauerhof ein und schauten uns alles an. Allerdings plante ich damals nicht, das De Librije zu verlassen.

Aber?
Irgendwann gelangte ich an einen Punkt, an dem ich mir sagte: Jetzt will ich so kochen, wie ich will. In den letzten Jahren genoss ich im De Librije viele Freiheiten, weil Jonnie Boer erkannt hatte, dass ich zusammen mit Souschef Nelson Tanate und Executive Chef Maik Kuijpers Gerichte in seinem Sinne kreierte. Boer setzte am Schluss nur noch ein paar Retuschen. Meistens war es nachher noch besser. Aber manchmal dachte ich auch: Das bin nicht mehr ich. Ich musste mich entscheiden, ob ich weiterhin einem grossartigen Koch folgen oder etwas Eigenes machen will. Ich wählte die zweite Option.

Sie kochten neun Jahre im Restaurant De Librije. Was faszinierte Sie an dem Lokal?
Zuerst muss man sagen, dass dort viel gearbeitet wird. Als ich anfing, waren es 75 bis 80 Stunden pro Woche. Später entschied die Brigade gemeinsam, noch eine Stunde früher zu starten, weil wir so eine bessere Qualität erreichen konnten. Aber die Atmosphäre, die Stimmung im Haus war einfach aufregend. Es ist ein grosses Team, alle beschäftigen sich mit Essen und Trinken, konstant, die ganze Zeit, Tag und Nacht. Zudem ist Jonnie Boer ein Koch, der ständig an seinen Gerichten arbeitet und sein Menü regelmässig wechselt. So blieb es immer spannend.

Was war Ihre anspruchsvollste Aufgabe?
Das kann man so nicht sagen. Ich brauchte drei Jahre, um die 34 Saucen des Hauses zu beherrschen. Saucen sind etwas vom Schönsten, was man kochen kann, aber sehr schwierig, um jemandem beizubringen. Kompliziert war auch das Geschäft auf den Kreuzfahrtschiffen. Auf den grösseren organisierten wir jeweils das De-Librije-Dinner. Das war ein frei wählbares Fünf-Gang-Menü für bis zu 100 Gäste. Es brauchte also eine Karte mit rund 15 Gängen, die dem Stil des De Librije entsprachen, aber für die Kochcrew auf dem Schiff umsetzbar waren, mit Zutaten, die 365 Tage pro Jahr überall auf der Welt erhältlich sind.

Seit April haben Sie das eigene Restaurant. Wie gehts mit der Entwicklung der Küche voran?
Dafür blieb bis jetzt nicht viel Zeit. Aus dem De Librije bringe ich einen Stil mit, der von mehreren Leuten beeinflusst wurde. Und auch hier im Sens ist mir das Team sehr wichtig. Klar bin ich der Chef, aber alleine schaffe ich es nicht. Wir kreieren die Gänge gemeinsam, etwa mit meinem Souschef Marcel Koolen, der auch zwei Jahre im De Librije arbeitete.

Was ist in Ihrer Küche wichtig?
Ich liebe es, anders zu sein. Wir fermentieren relativ viel. Das habe ich im De Librije gelernt. Im Sens treiben wir das aber noch weiter. Das funktioniert, weil ich wieder mehr koche. Bei Jonnie Boer produzierte ich irgendwann auch Kochbücher und kümmerte mich um andere Dinge. Hier stehe ich wieder jeden Tag am Herd, das fühlt sich gut an.

Im Sens trifft der Gast gleich beim Eintreten auf getrocknete Rinderherzen und Behälter mit fermentierendem Inhalt.
Die stillgelegte Feuerstelle in der Mitte des Gastraums ist ein Glücksfall. Es ist warm, was die Fermentation begünstigt, zudem hat es einen Abzug, so riecht der Gast nichts, sieht aber, was wir so machen. Die Rinderherzen legen wir während dreier Tage ein, dann trocknen und räuchern wir sie lange. Am Schluss werden sie über einen Gang geraspelt. Daneben lagern dort zurzeit ein Paprika-Kimchi, im Zucker eingelegte junge Tannenschösslinge und Bärlauchsamen in einer süss-sauren Flüssigkeit.

Sie scheinen glücklich hier im Luzerner Hinterland.
Meine Freundin wollte immer im Ausland arbeiten, dachte aber, dass ich das De Librije nicht mehr verlassen würde, dabei war ich damals erst 29 Jahre alt. In der Schweiz passt alles zusammen. Ich liebe Wassersport, zum Beispiel Wakeboarding, um den Kopf freizukriegen. Und ich liebe Skifahren. Darum ist es perfekt hier. Ich kann alles, was ich im Privaten mag, mit meiner Arbeit verbinden.

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Souschef Marcel Koolen
Souschef Marcel Koolen
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Kaisergranat, Mole, junge Mango und Papaya
Kaisergranat, Mole, junge Mango und Papaya
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Saibling, Tomate, Kaffir-Limette und geräuchertes Rinderherz
Saibling, Tomate, Kaffir-Limette und geräuchertes Rinderherz
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Jeroen Achtjen und Souschef Marcel Koolen
Jeroen Achtjen und Souschef Marcel Koolen
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Welche Erwartungen hat die Hotelleitung an Sie?
Karim Schumann hatte in Vitznau 16 Gault-Millau-Punkte, in Davos waren es 15. Das bisherige Niveau sollte gehalten, allenfalls sogar verbessert werden. Speziell im Restaurant Sens habe ich dafür freie Hand.

Was erwarten Sie von sich selbst?
Man sollte sich nicht zu viel Druck machen. Mir gelingt das relativ gut, weil ich ein ruhiger Mensch bin. Ein Punkt ist mir wichtig: Ich werde hier mindestens drei Jahre lang kochen, wenn das Gefühl gut ist und alles funktioniert, auch länger. Und ich werde immer mein Bestes geben. Wir werden sehen, was die Tester davon halten.

Wie gehts mit den Schweizer Gästen?
Ich war in den letzten Jahren ziemlich verwöhnt. In einem Drei-Sterne-Restaurant lassen sich die Gäste in der Regel darauf ein, was man ihnen serviert. Im Sens hatten wir keine Zeit, um ein À-la-carte-Menü aus dem Boden zu stampfen. In der ersten Woche boten wir darum ein Acht-Gang-Menü an, aus dem die Gäste wählen konnten. Das führte aber dazu, dass Gäste die Vorspeise als Hauptgang wählten und umgekehrt. So funktioniert es aber nicht, die Reihenfolge der Gänge ist von uns wohlüberlegt und essenziell für das Gesamterlebnis.

Also implementierten Sie ein Überraschungsmenü. Das ist hierzulande eher unbeliebt.
Das wurde mir auch gesagt. Trotzdem wollte ich es versuchen, aber nur, wenn alle mitziehen. Damit war das gesamte Kaderteam einverstanden. Am liebsten serviere ich möglichst viele Gänge. So kann der Gast mehr sehen, und ich kann es für ihn spannender machen. Und von vielen Gängen will man gar keine grosse Portion essen, weil die Aromen zwar interessant, aber auch sehr kraftvoll sind. Zurzeit bieten wir vier, sechs oder acht Gänge an. Und es läuft ziemlich gut. Das liegt wohl auch an den Amuse-bouches.

Warum?
Wir servieren ziemlich viele davon und überwältigen die Gäste ein bisschen damit. Es gibt am Anfang sofort etwas Kleines, dann kommen nochmals drei und nochmals ein Happen, bevor der erste Gang beginnt. Unsere Überlegung dahinter: Wenn die Amuse-bouches schmecken, ist der Gast offener für ein unbekanntes Menü.

Im Winter gehts nach Davos ins Waldhotel. Welche Pläne verfolgen Sie dort?
Eigentlich wäre das Lokal ein guter Ort für ein Grill-Restaurant. Aber meine Köche und ich brauchen diese Art zu kochen, es ist das, was wir wollen. Darum gibt es auch in Davos eine Gourmetküche, im gleichen Stil wie hier, aber mit mindestens 80 Prozent neuen Gerichten. Allerdings will ich das Restaurant im Waldhotel etwas entspannter gestalten.

Wie genau?
Ich mag den Namen des Restaurants nicht so sehr. Ich würde gerne einen Link zu Vitznau kreieren, da müssen wir noch darüber nachdenken. Und im Gastraum wünsche ich mir mehr Seele. Vielleicht bepflanzen wir eine Wand mit Microgreens, die wir für die Küche brauchen, die aber gleichzeitig eine schöne Atmosphäre stiften. Und wie im Sens wird es auch in Davos eine schwarze Wand geben, auf die wir die Ideen für die kommende Saison skizzieren. Wir freuen uns auf die Berge und hoffen natürlich auf ein volles Restaurant.

Jeroen Achtien (30) wuchs in Heerenveen im Norden von Holland auf. Nach einer Ausbildung an der Kochschule des Friesland College in Leeuwarden heuerte er 2009 direkt bei Drei-Sterne-Koch Jonnie Boer im Restaurant De Librije in Zwolle an. Er begann als Commis de Partie, mit dem Ziel, ein Jahr zu bleiben. Es kam anders. 2011 wurde er zum Souschef befördert, 2016 übernahm er die Leitung der Küche. Zu Achtiens Aufgaben gehört unter anderem das Kreieren von neuen Gerichten, aber auch die Produktion von Kochbüchern. Zudem war er für die Umsetzung des Gourmetmenüs Taste of De Librije der Kreuzfahrtgesellschaft Holland American Line verantwortlich und deshalb oft auf den zahlreichen Schiffen der Gesellschaft anzutreffen. Seit April führt Achtien als Executive Chef die Gastronomie des nur über den Sommer geöffneten Hotels Vitznauerhof in Vitznau, zu dem auch das Gourmetrestaurant Sens gehört. In den Wintermonaten bespielt Achtien mit seiner Brigade dann die Küche des Waldhotels Davos. Der Name Achtien bedeutet übrigens 18, darum dient die Zahl als Logo auf seiner Kochjacke.

Hotel Vitznauerhof, Restaurant Sens, Seestrasse 80, 6354 Vitznau, 041 399 77 77, www.vitznauerhof.ch