05.08.2019

Eiskalt und heissgeliebt

Text: Virginia Nolan – Fotos: frantic00 – Shutterstock.com / z. V. g.
Die Schweizer lieben Glace. Dass sie einst auch Meister des handwerklichen Metiers dahinter waren, zeigt ein Blick in die Geschichtsbücher.
Gelato wie in Italien: für Schweizer der Glacetraum schlechthin.
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Noch bevor unsere Schokolade ihren Siegeszug durch die Welt antrat, hatte die Schweiz einen anderen Exportschlager.

Die beste Glace, darin sind Schweizer sich einig, kommt aus Italien. Kindheitserinnerungen nähren diese Überzeugung, vielleicht ein bisschen Fernweh – aber ebenso die Tatsache, dass die Gelateria unsere Sehnsüchte dahingehend kaum enttäuscht. Es sind Momente purer Verzückung, wenn sich die Zunge zur cremigen Masse neigt, die windschief auf einer kleinen Waffel thront und bald beidseitig abzustürzen droht. Beim Gelato ist Handwerk wichtiger als Optik, und so verkörpert es gewissermassen den Kontrapunkt zum perfekt geformten Eis am Stiel aus Industrieproduktion.

Während unsere südlichen Nachbarn als Glace-Meister schlechthin gelten, ist weniger bekannt, dass bei der Erfolgsstory von Speiseeis auch so einige Schweizer ihre Finger im Spiel hatten. Denn noch bevor unsere Schokolade ihren Siegeszug durch die Welt antrat, hatte die Schweiz einen anderen Exportschlager: Bündner Zuckerbäcker, die mit ihren Dessert- und Eiskreationen Gutbetuchte in ganz Europa verzückten. Um der Armut zu entkommen, verliessen ab dem 17. Jahrhundert junge Männer aus Südbünden ihre Heimat in Scharen. Die meisten brachen nach Italien oder Venedig auf, das damals eine der grössten Metropolen Europas und Hauptstadt der gleichnamigen Republik war. Einige von ihnen folgten dem Ruf von Angehörigen und Freunden, die in der Fremde das Metier des Konditors erlernt oder perfektioniert hatten – und nun mit Produkten Erfolge feierten, die ihre bäuerliche Heimat nicht kannte: Marzipan, Kuchen, Konfekt und Glace-Spezialitäten. So entstanden mit der Zeit von Venedig über Triest und Florenz bis nach Palermo Zentren von Bündner Konditoreien, die Nachwuchs aus der Heimat in der Kunst der Süss- und Eisspeisen unterwiesen.

Bündner Zuckerbäcker galten als fleissig, sparsam und sauber, und in ganz Italien alsbald auch als Garant für Raffinesse und Qualität. In Venedig schob die Republik ihrem florierenden Geschäft einen Riegel, als sie nach einem Handelsstreit sämtliche Schweizer Zuckerbäcker der Stadt verwies. Ab diesem Zeitpunkt erweiterten die Bündner Konditoren ihren Radius und verteilten sich über den ganzen Kontinent. Ihre Wege führten von Italien weiter nach Bordeaux und Marseille, Berlin und Warschau, Kiew und St. Petersburg. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts soll es rund 10000 Bündner Zuckerbäcker in über 1000 Städten weltweit gegeben haben. So wurde etwa das legendäre Berliner Café Josty während Generationen von Bündner Familien geführt, und ebenso waren es Bündner Konditoren gewesen, die in St. Petersburg das Café Chinois gegründet hatten, einen berühmten Treffpunkt von Literaten wie Fjodor Dostojewski. Die älteste Konditorei Umbriens, die Pasticceria Sandri in Perugia, ist sogar noch heute in Bündner Hand.

Will auf das Erbe helvetischer Glacé-Pioniere aufmerksam machen und daran anknüpfen: Hans Peter Rubi, Glacé-Meister aus Olten.
Will auf das Erbe helvetischer Glacé-Pioniere aufmerksam machen und daran anknüpfen: Hans Peter Rubi, Glacé-Meister aus Olten.

Einem Tessiner ist es derweil zu verdanken, dass Speiseeis zum Liebling der Massen avancierte – zumindest auf den britischen Inseln. 1839 wanderte Carlo Gatti, Sohn eines Kastanienhändlers aus dem Bleniotal, im Alter von zwölf Jahren nach Paris aus, wo er auf seinem Handwagen Marroni und Waffeln verkaufte. Später führte seine Reise weiter nach London. Dort gründete Gatti zusammen mit dem Tessiner Chocolatier Battista Bolla ein Kaffeehaus samt Konditorei, die hausgemachtes Eis feilbot. Dass Glace zu dieser Zeit ein Luxusprodukt war, lag nicht nicht nur an seinen teuren Ingredienzen, sondern auch in der Tatsache begründet, dass seine Herstellung nach Eis verlangte. Solches gab es in Europa vielerorts nur im Winter, und obendrein war es dann oft schmutzig. Gatti war in England der Erste, der Eis im grossen Stil importierte – nicht aus heimatlichen Gletschern der Schweiz, sondern aus Norwegen, wo es in Blöcke gehauen und dann auf kürzestem Weg per Schiff nach England verfrachtet wurde. In London liess der Tessiner Eisbrunnen und Eiskeller graben, in denen die Fracht in den Sommermonaten kühl blieb.

Bald verfügte Gatti in rauen Mengen über ein bislang rares Gut, was ihm ermöglichte, seine Glace unters Volk zu bringen – mit einem kleinen Verkaufswagen, wie Gatti ihn früher für seine Marroni genutzt hatte. Die Idee schlug ein wie eine Bombe: 1858 verkaufte Gatti in London pro Tag 10000 Gelati für einen Penny pro Stück. Der «Penny Lick», die kleine Portion Eis vom Strassenhändler, serviert im Gläschen, ist in England bis heute ein Begriff. Ziemlich sicher denkt auch der Brite beim ersten Schleck sehnsüchtig an Italien – Gatti würde es ihm bestimmt nachsehen.

Der Tradition verpflichtet
Einer, der auf die Leistungen helvetischer Glace-Pioniere aufmerksam machen und mit seinem Handwerk an ihre Tradition anknüpfen will, ist der Berner Oberländer Hans Peter Rubi. Der gelernte Konditor, ehemalige Hotelier und Begründer der Gruppe Swiss Budget Hotels hat vor fünf Jahren in Olten Rubi’s Ice Creamery eröffnet – «ein Startup zur Frühpensionierung», wie er sagt. In handwerklicher Manier und ohne Zusatzstoffe stellt er über 40 Glace-Sorten her, darunter auch Sorbets und vegane Varianten. Rubi verkauft sie in seinem Ladenlokal und macht Hauslieferungen. Nach fünf erfolgreichen Jahren in seiner Glace-Manufaktur fasst der Konditor nebst einem Franchisingsystem nun auch Gastronomen als Zielgruppe ins Auge. Rubi will ihnen «Glace im Austauschverfahren» anbieten, wie er sagt, «ein flexibles System, das dem Betrieb nicht eine bestimmte Anzahl Kübel, sondern nur seinen effektiven Verbrauch verrechnet». Rubi schwebt ausserdem das Revival des Coupe vor: «Wenn er gut ist, reisen die Leute dafür von weit her an.» Rubi will als Partner für Gastronomen fungieren, die sich auf Coupes spezialisieren und ein entsprechendes Angebot zu ihrem Markenzeichen machen wollen. «Die Coupe-Karte kommt heute in jedem Betrieb gleich daher», sagt er. «Das ist schade, denn damit entgeht dem Gastgeber viel Umsatzpotenzial. Schon vor Jahren machten wir die Erfahrung, dass eine gut durchdachte und ein einzigartige Glace-Karte ein Gästemagnet schlechthin ist.» Mehr Informationen zu Hans Peter Rubi und seiner Ice Creamery gibt es hier.