Noch bevor unsere Schokolade ihren Siegeszug durch die Welt antrat, hatte die Schweiz einen anderen Exportschlager.
Die beste Glace, darin sind Schweizer sich einig, kommt aus Italien. Kindheitserinnerungen nähren diese Überzeugung, vielleicht ein bisschen Fernweh – aber ebenso die Tatsache, dass die Gelateria unsere Sehnsüchte dahingehend kaum enttäuscht. Es sind Momente purer Verzückung, wenn sich die Zunge zur cremigen Masse neigt, die windschief auf einer kleinen Waffel thront und bald beidseitig abzustürzen droht. Beim Gelato ist Handwerk wichtiger als Optik, und so verkörpert es gewissermassen den Kontrapunkt zum perfekt geformten Eis am Stiel aus Industrieproduktion.
Während unsere südlichen Nachbarn als Glace-Meister schlechthin gelten, ist weniger bekannt, dass bei der Erfolgsstory von Speiseeis auch so einige Schweizer ihre Finger im Spiel hatten. Denn noch bevor unsere Schokolade ihren Siegeszug durch die Welt antrat, hatte die Schweiz einen anderen Exportschlager: Bündner Zuckerbäcker, die mit ihren Dessert- und Eiskreationen Gutbetuchte in ganz Europa verzückten. Um der Armut zu entkommen, verliessen ab dem 17. Jahrhundert junge Männer aus Südbünden ihre Heimat in Scharen. Die meisten brachen nach Italien oder Venedig auf, das damals eine der grössten Metropolen Europas und Hauptstadt der gleichnamigen Republik war. Einige von ihnen folgten dem Ruf von Angehörigen und Freunden, die in der Fremde das Metier des Konditors erlernt oder perfektioniert hatten – und nun mit Produkten Erfolge feierten, die ihre bäuerliche Heimat nicht kannte: Marzipan, Kuchen, Konfekt und Glace-Spezialitäten. So entstanden mit der Zeit von Venedig über Triest und Florenz bis nach Palermo Zentren von Bündner Konditoreien, die Nachwuchs aus der Heimat in der Kunst der Süss- und Eisspeisen unterwiesen.
Bündner Zuckerbäcker galten als fleissig, sparsam und sauber, und in ganz Italien alsbald auch als Garant für Raffinesse und Qualität. In Venedig schob die Republik ihrem florierenden Geschäft einen Riegel, als sie nach einem Handelsstreit sämtliche Schweizer Zuckerbäcker der Stadt verwies. Ab diesem Zeitpunkt erweiterten die Bündner Konditoren ihren Radius und verteilten sich über den ganzen Kontinent. Ihre Wege führten von Italien weiter nach Bordeaux und Marseille, Berlin und Warschau, Kiew und St. Petersburg. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts soll es rund 10000 Bündner Zuckerbäcker in über 1000 Städten weltweit gegeben haben. So wurde etwa das legendäre Berliner Café Josty während Generationen von Bündner Familien geführt, und ebenso waren es Bündner Konditoren gewesen, die in St. Petersburg das Café Chinois gegründet hatten, einen berühmten Treffpunkt von Literaten wie Fjodor Dostojewski. Die älteste Konditorei Umbriens, die Pasticceria Sandri in Perugia, ist sogar noch heute in Bündner Hand.