«Mittlerweile haben viele sprichwörtlich Blut geleckt.»
Mit Ihrem Blog «zumfressngern» sind Sie zum Aushängeschild der Nose-to-tail-Bewegung geworden. Heute beraten Sie Gastronomen und andere Unternehmen in Fleischfragen. Woher rührt Ihre Affinität zum Thema?
Nicole Hasler: Mit dem Blog wollte ich meine Leidenschaft für gutes Essen teilen. Ich hatte nicht geplant, mich dem Thema Nose to tail zu widmen, das hat sich so ergeben. Und zwar nachdem ich erstmals an einer Schlachtung teilgenommen hatte. Ich hatte mich um diese Möglichkeit bemüht, weil mich der Prozess interessierte. Auch die Neugier trieb mich an. Als Endkonsument kommt man an viele Fleischstücke nicht heran, wir essen nur einen Bruchteil vom Tier. Ich wollte mehr erfahren. Ich half also mit, ein Schwein zu schlachten. Später durfte ich alle Stücke probieren, und das war eine Offenbarung: welch kulinarischer Reichtum! Den vergeben wir uns, wenn wir uns auf wenige Stücke beschränken. Wenn wir ein Tier essen, dann sollten wir es auch wertschätzen, sein kulinarisches Potenzial voll ausschöpfen. Das ist der Kern meiner Botschaft. Wo wir gerade von Nose to tail sprechen – erstmal würde ich gerne den Begriff klären.
Bitte.
Aus meiner Sicht gibt es zwei Auffassungen. Die eine wurzelt in der Anti-Foodwaste-Bewegung. Da geht es, vereinfacht gesagt, darum, dass man die unliebsamen Stücke als Lebensmittel verwertet und nicht zum Beispiel als Tierfutter oder in der Pharmaindustrie. Die Forderung lautet entsprechend, mehr Innereien zu kochen. Das ist in Ordnung, ändert aber wenig am System.
Warum nicht?
Die Mengen, welche die Fleischindustrie produzieren muss, sind riesig. Entsprechend hat sich die Branche organisiert: mit zentralisierten Schlachthöfen, die aufgrund ihrer Grösse meist in der Peripherie angesiedelt sind. Das ist ökonomisch sinnvoll, führt aber dazu, dass wir von alledem nichts mitbekommen. Wo ich aufwuchs, hatten wir einen Metzger mit eigenem Schlachthäuschen, der sein Handwerk mitten im Dorf ausübte. Das war normal. Heute haben wir uns vom Tier entfremdet, holen Fleisch beim Grossverteiler – vakuumiert, abgepackt, ohne Blut. Darum, den Bezug zum Tier wiederherzustellen, dreht sich der zweite Ansatz von Nose to tail. Bei mir steht er im Zentrum.
Aber der zentralisierte Schlachtprozess lässt sich wohl kaum umkehren.
Natürlich nicht. Trotzdem gibt es Wege, dem Konsumenten das Tier wieder näherzubringen – und da spielen Gastronomen eine Schlüsselrolle. Wie das gelingen kann, zeigen engagierte Köche, die ganze Tiere kaufen und verarbeiten. Sie verzichten auf den Komfort einer fixen Karte und bieten an, was sie haben. Der Gast erfährt, was es damit auf sich hat, oft auch, von welchem Bauern das Fleisch kommt. Das führt dazu, dass er hinter das Produkt sieht, die Verbindung zum Tier wieder sichtbar wird.
Wie gut nehmen Schweizer Gastronomen diese Vermittlerrolle wahr?
Ich finde es toll, wie sich die Branche für das Konzept Nose to tail interessiert. Am Anfang war man skeptisch, was nachvollziehbar ist in Zeiten, in denen ein Foodtrend den nächsten jagt. Mittlerweile haben viele sprichwörtlich Blut geleckt und Freude am Thema. Gerade hier in Zürich gibt es in dieser Hinsicht viele Köche, die zig unbezahlte Stunden investieren, um ein Schlachttier vollständig und nach allen Regeln der Kunst zu verwerten. Was diese Leute leisten, ist wahnsinnig. Sie sind wohl nicht die grosse Mehrheit, aber Sympathieträger, die den Wandel vorantreiben. Ohne sie funktioniert es nicht.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass Lammhoden, Schweineohren und Co. sich in der Gastronomie etablieren werden?
Da mache ich mir nichts vor: Die Grossverteiler spüren nichts von Nose to tail. Frage ich hingegen bei den Lieblingsproduzenten der Spitzengastronomen nach, sagen die mir, dass Innereien zeitweise fast mehr gefragt seien als Muskelfleisch. Es ist also etwas im Gang. Dennoch: Die Gästeklientel, die solche Stücke wählt, ist und bleibt eine Minderheit.
Warum?
Menschen sind Gewohnheitstiere, erst recht beim Essen. Da gehen Veränderungen nur langsam vonstatten. Vor allem was man als Kind isst, prägt einen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es noch immer mit vielen Gästen und Konsumenten zu tun haben, die als Kind Innereien essen mussten, weil diese Stücke günstig waren oder man Abfall vermeiden wollte. Ich muss gestehen: Viele traditionelle Innereien-Rezepte schmecken mir auch nicht. Diese Küche ist mir zu schwer. Deshalb habe ich begonnen, leichte, sommerliche Rezepte zu entwickeln – gegrillter Euter mit Zitrone etwa oder Tatar vom Rinderherz. Es ist wie mit Rosenkohl: Gedämpft mögen ihn viele nicht. Ganz anders sieht es aus, wenn man ihn röstet oder brät – ein komplett unterschiedliches Geschmackserlebnis. Innereien eröffnen uns eine riesige Vielfalt an Aromen und Texturen, verlangen aber auch handwerkliche Raffinesse.