10.12.2019

«Es gibt noch viel zu tun»

Interview: Virginia Nolan – Fotos: Die Auslöser / MISEREOR
Slow Food International feiert ihr 30-Jahre-Jubiläum. Vorstandsmitglied Ursula Hudson wirft einen Blick zurück und erklärt, was die Bewegung in Zukunft vorhat.
Der Druck wächst: Slow Food will den Austausch zwischen Zivilgesellschaft und Politik vorantreiben.
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«Slow Food wird sich in Zukunft noch stärker politisch ausrichten.»

30 Jahre ist es her, seitdem Delegierte aus 15 Ländern in Paris das Gründungsmanifest von Slow Food unterzeichneten. Was hat sich seither verändert?
Ursula Hudson:
Zunächst einmal ist die Bewegung gewachsen: Aus einer Handvoll Menschen, die die Sache ins Rollen brachten, wurde ein Netzwerk, das heute in 160 Ländern aktiv ist und über eine Million Freiwilliger und Aktivisten umfasst. Dem Grundgedanken des Manifests – dem achtlosen, schnelllebigen Konsum die Rückbesinnung auf das Gute, Ursprüngliche und Genussvolle entgegenzusetzten – ist Slow Food bis heute treu geblieben. Aber die Bewegung ist viel politischer als früher. Standen am Anfang vor allem der Lebensstil bewusster Langsamkeit und die Vielfalt authentischer Geschmäcker im Zentrum, geht es heute um mehr. Mit der Präsenz von Slow Food auf mehreren Kontinenten sind Fragen zur globalen Ernährungsproblematik und den damit verbundenen ökologischen und sozialen Themen ins Zentrum gerückt.

2020 werde ein grundlegendes Jahr für Slow Food, liess der internationale Vorstand verlauten. Was steht auf der Agenda?
Mittelfristig wird es zu einem Generationenwechsel in der Führungsriege kommen, da wir im internationalen Vorstand alle schon älter sind. Sicher im Hinblick auf diese Transformation ist auch, dass sich Slow Food in Zukunft noch stärker politisch ausrichten wird, das wird sich auch inhaltlich zeigen.

Inwiefern?
Eines der wichtigsten Themen ist Ernährungssouveränität, also das Recht auf die selbstbestimmte Produktion von Lebensmitteln. So wollen wir die lokalen Erzeugergemeinschaften stärken, etwa, indem wir die Presidi-Projekte ausbauen. 2020 sollen weltweit 30 weitere hinzukommen. Mit Presidi unterstützt Slow Food bedrohte, hochwertige Lebensmittelproduktionen, schützt autochthone Tierrassen oder Pflanzenarten und hilft Erzeugern, sich mit solchen Produkten einen Markt zu erschliessen. Gleichzeitig wollen wir unsere Präsenz in Brüssel ausbauen, wo Slow Food ein kleines, sehr gut funktionierendes Büro betreibt. 2020 soll es Verstärkung bekommen. Uns geht es nicht um klassische Lobbyarbeit, sondern vielmehr um positive Einflussnahme. Dazu gehört, den Austausch zwischen Politik und Zivilgesellschaft zu fördern – und ebenso, die guten Bemühungen, die es auf politischer Ebene ja auch gibt, in die Gesellschaft zu tragen.

«Wenn Gourmetköche unsere Anliegen aufgreifen, ist das begrüssenswert. Unser Hauptaugenmerk aber betrifft Themen, die keine privilegierte Minderheit, sondern ein grundlegendes Recht aller im Auge haben: den Zugang zu guten, sauberen und fair hergestellten Lebensmitteln», sagt Ursula Hudson, Vorstandsmitglied von Slow Food International.
«Wenn Gourmetköche unsere Anliegen aufgreifen, ist das begrüssenswert. Unser Hauptaugenmerk aber betrifft Themen, die keine privilegierte Minderheit, sondern ein grundlegendes Recht aller im Auge haben: den Zugang zu guten, sauberen und fair hergestellten Lebensmitteln», sagt Ursula Hudson, Vorstandsmitglied von Slow Food International.

Slow-Food-Produktionen besetzen eine Nische, die viele Konsumenten mit Luxus verbinden. In deren Köpfen ist die Idee eine Bewegung satter Wohlstandsbürger.
Ich weiss, und ich bedauere, dass dieses Klischee sich bis heute hält. Sicher hat es damit zu tun, weil die Bewegung in Italien, ich sage es jetzt mal ganz salopp, einst irgendwo zwischen Albatrüffeln und Baroloreben ihren Anfang genommen hat. Genuss ist ein, aber eben bei weitem nicht der einzige Aspekt von Slow Food. Wenn Gourmetköche unsere Anliegen aufgreifen und sie auf den Teller bringen, dann ist das sicher begrüssenswert. Unser Hauptaugenmerk liegt aber anderswo, es betrifft Themen, die keine privilegierte Minderheit, sondern ein grundlegendes Recht aller im Auge haben: den Zugang zu guten, sauberen und fair hergestellten Lebensmitteln. Sehr treffend veranschaulichen dies die Slow-Food-Gärten in Afrika.

Erzählen Sie.
Seit 2011 hat Slow Food fast 4000 Gärten in Afrika angelegt und dabei über 50 000 Menschen in 25 verschiedenen Staaten involviert. Bei den Gärten geht es um praktische Modelle nachhaltiger Landwirtschaft, die an ökologische, kulturelle und soziale Rahmenbedingungen angepasst sind und sich einfach reproduzieren lassen. Die Gärten weisen die Richtung zu einer alternativen Entwicklung, bei der die Lebensmittelherstellung wieder an die lokale Gesellschaft gekoppelt ist. Damit einher gehen Bildungsprojekte für Kinder und Jugendliche. Dabei geht es um Ernährungslehre, traditionelle Landwirtschaftspraktiken oder um den Erhalt von fruchtbarem Boden. Manche Gärten haben auch einen Fokus auf Saatgutvermehrung, und da zeigt sich, dass es sich eben lohnt, traditionelle, der Umgebung angepasste Sorten zu erhalten, weil sie viel widerstandsfähiger sind als das, was Saatgutkonzerne überallhin verkaufen. In Malawi zum Beispiel hatten die Gärten zur Folge, dass sich wieder mehr Kinder an den Schulen einschrieben, weil sie im Rahmen der Projekte dort lernten, wie sie Essen für sich und ihre Familien anbauen. Die afrikanischen Gärten sind, wenn Sie so wollen, ein Musterbeispiel von Ernährungssouveränität. 2020 sollen 300 weitere hinzukommen.

Wie gut ist die Slow-Food-Philosophie in der Gastronomie verbreitet?
Das ist je nach Land unterschiedlich. Das Vorbild ist und bleibt in dieser Hinsicht Italien, wo die Slow-Food-Idee von der Gesellschaft mitgetragen wird wie sonst nirgendwo. Dies hat natürlich damit zu tun, dass Italien das Ursprungsland der Bewegung ist, aber auch mit Carlo Petrini, ihrem Gründer, der im Land als Publizist eine starke Präsenz hat. Auch international tut sich einiges: Die Slow Food Chef Alliance, das internationale Netzwerk von Köchen, die sich für saubere und faire Produkte einsetzen, wächst stetig, und die Fragen, die uns beschäftigen, sind mittlerweile auch in der Gesellschaft angekommen. Aber es gibt noch Luft nach oben – und in jeder Hinsicht viel zu tun.

Ursula Hudson (1958) ist Vorstandsvorsitzende von Slow Food Deutschland und Mitglied des Vorstands von Slow Food International. Die Kulturwissenschaftlerin und Autorin behandelt in ihren Veröffentlichungen und Vorträgen vor allem das Thema Essen und dessen Kulturgeschichte, die lokale Verankerung von Lebensmitteln und die kulinarische Bildung. Mehr Informationen zu Slow Food und das 30-Jahre-Jubiläum der Bewegung gibts hier.