16.11.2023 Salz & Pfeffer 6/2023

Gastro-Gipfel am Atlantik

Text: Hans Georg Hildebrandt – Fotos: z. V. g.
Zum 25. Mal versammelten sich Kulinarikfans, Küchenchefinnen und Medienleute in San Sebastián zu einem der wichtigsten Branchentreffen. Das Motto zum Jubiläum lautete «Die Zukunft der Geschichte». Das spannendste Referat hielt ein Jungstar aus Kopenhagen.
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Zu sehen war auf der Bühne extrem ausgereiftes Handwerk.

Wenn man Rasmus Munk heisst, sieht die Zukunft so aus, dass man weit über 5000 Personen auf der Warteliste für ein Dinner in seinem Lokal stehen hat. Verrückt – und verrückt ist auch Munks Konzept, das man nicht mehr als Restaurant bezeichnen kann: Mit einem 130-köpfigen Team eskaliert das auf eine Dauer von acht Stunden angelegte Dinner zu einer immersiven Ganzkörpererfahrung. «Wir beschäftigen sogar einen Drehbuchschreiber, der die Skripts zum Service der Gerichte verfasst», sagte Munk auf der Bühne des Kursaals von San Sebastián, während er eines seiner bereits legendär abgefahrenen Gerichte zubereitete. 

Zukunft findet in Kopenhagen statt
Munks kulinarische Kreationen haben es in sich. Das bewies der Küchenchef des Alchemist in Kopenhagen unlängst auch im baskischen San Sebastián. Im Rahmen der 25. Ausgabe des Kongresses Gastronomika, die dort im Oktober stattfand, zeigte er, wie er für einen Gang namens «Hunger» fein aufgeschnittenes, 24 Stunden lang getrocknetes Kaninchenfilet auf einem verkleinerten menschlichen Brustkorb-Gerippe drapiert. Parallel wurde den rund 200 registrierten Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Kongress ein getrockneter Schmetterling auf einem leicht gesüssten Laubblatt gereicht. Lammhirn, Hühnerfüsse und Luftröhre vom Schwein gehören ebenfalls zum pädagogisch aufgeladenen Menü. Zur Entspannung werden die Gäste zum Herumtrolen in den Freedom Room gebeten – das ist ein Bällebad wie bei Mc Donald’s, denn, so Munk: «Dort habe ich mich im Alter von sieben Jahren zum letzten Mal wirklich frei gefühlt.» All das ist gleichermassen nervig und unverfroren sowie aufregend und herausfordernd. Und so gesehen das, was die Küche von heute können muss. 

Perfekte Technik ist Luxus
Die spanische Kochcommunity lieferte an der 25. Edition des Gastronomika in San Sebastián ebenfalls tolle, wenn auch nicht gleichermassen verrückte Ideen ab. So zum Beispiel der mit drei Michelin-Sternen dotierte Eneko Atxa vom Restaurant Azurmendi in der Nähe von Bilbao: Er ist ein kochender Poet und zeigte in seiner Präsentation auf, wie man die Liebe zur Natur in ein kulinarisches Erlebnis verwandelt. Insgesamt erinnerten sein Auftritt wie auch seine Person an den aktuellen Shootingstar der Schweizer Kochszene Dominik Hartmann vom Magdalena in Rickenbach. Mit Oriol Castro vom Disfrutar in Barcelona stand ausserdem einer der erfolgreichsten Schüler und der ehemalige Souschef von Ferrán Adriá im legendären El Bullí auf der Gastronomika-Bühne. In seinem Rückblick auf die ersten zehn Jahre Disfrutar skizzierte Castro, wie sich Spaniens Küche weiterentwickelt hat, seit das El Bullí 2011 geschlossen worden war. Zu sehen war auf der Bühne extrem ausgereiftes Handwerk: Castro und sein Team haben sich darauf verlegt, hochkomplizierte Arten der Zubereitung zu überraschenden Gerichten zu kombinieren. Es gibt tiefgekühlte oder alkoholische Espumas, Meringue sous-vide oder aber traumhaft schön geschnittene Gemüse-Sashimi. Texturielle Hilfsmittel wie Xanthan oder Alginat für Sphärifikationen kommen derweil nur noch vereinzelt zum Einsatz. 

«Hunger»: In Rasmus Munks immersivem Restaurant werden dem Gast ungewohnte Emotionen zugemutet.
«Hunger»: In Rasmus Munks immersivem Restaurant werden dem Gast ungewohnte Emotionen zugemutet.
Perfektion: Das Team vom Disfrutar in Barcelona
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Wanderer: René Redzepi gibt Tipps gegen Burnout.
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Poet der Natur: Drei-Sterne-Koch und Unternehmer Eneko Atxa
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Viel befragter Guru: Ferrán Adriá
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Übrigens hat auch René Redzepi vom Kopenhagener Restaurant Noma einst bei Adriá im El Bullí gearbeitet. Auf der Bühne von San Sebastián, jener Stadt, in der er als junger Mann bei Juan Mari Arzak sein erstes Drei-Sterne-Essen genoss, erzählte er nun davon, wie er einst einen Bus nach Roses bestiegen hatte, um sich für ein Praktikum im El Bullí zu bewerben. Es dauerte anschliessend nur wenige Jahre, bis Redzepi mit dem Noma seine eigene Vision von der nordischen Spitzengastronomie weltberühmt machte. Sein Ratschlag für junge und ehrgeizige Köchinnen respektive Köche: «Unglaublich viel, unglaublich hart arbeiten. Und dennoch Zeit für sich selbst einplanen, um nicht auszubrennen.» Redzepi selbst geht zu diesem Zweck übrigens wandern, über Wochen hinweg, auf allen Kontinenten. 

Kongress mit Einfluss
Die Geschichte des San Sebastián Gastronomika begann vor 25 Jahren. Die Gründergeneration feierte sich ausgiebig und nahm in Anspruch, wegweisend gewesen zu sein, was die Verbreitung kulinarischer Ideen angeht – immerhin war es früher unvorstellbar, dass Köche oder Köchinnen auf der Bühne ihre Geheimnisse offenlegen und ein Publikum dafür bezahlt. Zu den Gründern des Kongresses gehört auch Rafael Garcia Santos, polarisierende Legende des spanischen Gastrojournalismus. Er wurde im Rahmen der diesjährigen Veranstaltung für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Aus diesem Anlass hielt der 2012 als Journalist zurückgetretene Garcia in einem Interview mit der Tageszeitung El País fest, dass sich die spanische Kulinarikrevolution für den Moment erledigt habe: «Heute ist Mc Donald’s die Zukunft der Gastronomie.» Garcia veranstaltet heute einen Wettbewerb, in dem die beste Kartoffeltortilla Spaniens gesucht wird. In ihr sieht er die kulinarische Zukunft. 

Ebenfalls geehrt wurde der bereits erwähnte Ferrán Adriá, der sich im Anschluss für ein Gespräch zur Verfügung stellte. Für ihn ist klar, dass Rasmus Munk derzeit weltweit die spannendste Auslegung von Gastronomie bietet – und dass dies bei Weitem nicht nur mit einem von Mc Donald’s entliehenen Bällebad zu tun hat. Auch zum gegenüber Spaniens aktueller Küche sehr kritischen El-País-Interview von Garcia bezog er Stellung («Rafael war schon immer sehr fordernd!») und lächelte dessen aggressiven Unterton mit Charme weg. Mit dem Fokus auf die Kartoffeltortilla habe der frühere Journalist indes recht: «Richtig vermarktet, könnte die Tortilla für Spanien das werden, was die Pizza heute für Italien ist», sagte Adriá. «Mein Bruder Albert hat mit dem Mercado Little Spain in New York ein Lokal, durch das jährlich rund eineinhalb Millionen Gäste ziehen, die dort mit der Tortilla in Kontakt kommen.» Das könne sich durchaus dementsprechend auswirken. Wer sich für die Zukunft der Geschichte der Kulinarik interessiert, sollte sich also am ehesten mit der Tortilla befassen.

sansebastiangastronomika.com
tortilladepatataslomejordelagastronomia.com