Was das Erzählen von Geschichten angeht, ist die Chasa Chalavaina in Müstair natürlich dankbar.
Gut möglich, dass Jon Fasser keine Ahnung hat, was all die Spitzenköche, Trendgastronomen und Consultants meinen, wenn sie Storytelling predigen. Er beherrschts einfach. Wenn der 77-Jährige im Chasa Chalavaina an den Tisch tritt und seinen Gästen verkündet, was heute serviert wird, erzählt er es, in Worten, mit Gesten und bei Bedarf auch mit dem einen oder anderen Stück Papier. Gerade klärt er die Vierergruppe am Tisch hinten links übers Mittagessen auf: Der Lauch für die Suppe kommt aus dem Garten, die Äpfel für den Kuchen stammen vom 300-jährigen Baum hinter dem Haus. «Der trägt riesige Früchte.»
Der Hirsch fürs Geschnetzelte indes wurde von einer jungen Jägerin geschossen. «Hier», sagt Fasser und reicht einen abgegriffenen blauen Zettel in die Runde. Darauf hat das Amt für Lebensmittelsicherheit und Tiergesundheit Graubünden säuberlich festgehalten, wer besagten Hirsch wann an welcher Stelle erlegt hatte, wo die Kugel in den Körper ein- und wo sie wieder ausgetreten war. «Sehen Sie: genau hier.» Fasser, der früher selbst auf die Jagd ging, markiert die beiden Kreuze mit seinen Fingern. Storytelling vom Feinsten.
Was das Erzählen von Geschichten angeht, ist die Chasa Chalavaina in Müstair natürlich dankbar: Seit 1254 ist sie als Herberge in Betrieb, die (mittlerweile ausgebaute) Scheune nebenan stammt von 1696. Alles hier ist Geschichte, über die Jahrhunderte organisch gewachsen, jeder Winkel steckt voller Historie und bietet mehr als eine anekdotische Steilvorlage: die 15 Zimmer mit ihren niedrigen Decken und schmalen Türen, die dicken Mauern und das von Furchen und Schrammen gezeichnete Täfer, die Kachelöfen, die Bilder an den Wänden, die Gegenstände aus alten Zeiten und vergangenen Leben.
Die abenteuerlichste Episode ist sicher jene von 1499, als der legendäre Bündner Kriegsführer Benedikt Fontana auf der Laube der Chasa Chalavaina stand und über 6000 jungen Männern letzte Anweisungen für den Kampf gegen die österreichisch-habsburgischen Truppen gab. Am nächsten Tag trafen die Bündner an der Calven auf eine doppelt so starke Armee – und vermochten diese zu schlagen. Fontana verlor im Kampf das Leben, seine letzte Herberge hiess fortan Calven-Haus. Also Chasa Chalavaina.
Oft sind Fassers Geschichten weit weniger spektakulär, immer aber lebendig. Der Gastgeber erzählt davon, wie der Klang kleiner Bimmeln früher das Eintreffen einer Kutsche ankündigte, davon, wie die Frauen des Hauses in der Nische am Fenster sassen, schwatzten und nähten, und davon, wie in der alten Küche, deren Wände und Decke vom Russ der vergangenen Jahrhunderte geschwärzt sind, Fleisch geräuchert wurde.
Die «schwarze Küche» beherbergt den ältesten noch betriebenen Holzbackofen Europas, wobei Fasser diesen nur noch im Winter gelegentlich einfeuert. «Wenn Zeit ist», sagt er, während er Wachs aus alten Rechaudkerzen kratzt, die Stückchen in eine schmutzige Papierserviette wickelt, das Päckchen zerknüllt und anzündet. Jeder Handgriff sitzt, das Feuer lodert im Nu.