«Die meisten begreifen gar nicht, worum es dabei eigentlich geht.»
Beilage? Von wegen. Gemüse ist längst mehr als Beigemüse. Es bietet dem Koch ungemein viel Raum für Kreativität. Punkto Zubereitung, beispielsweise. Braten, Kochen, Dämpfen und Pürieren sind das Eine. Nun macht sich eine weitere Zubereitungsart bemerkbar, die besonders in Japan und Korea weit verbreitet und in den USA und Skandinavien populär ist: die Kunst der Gemüsefermentation.
Diese Methode des Haltbarmachens ist uralt, könnte man jetzt monieren. Das stimmt. Sowohl Bier, Schokolade als auch Sojasaucen werden in diesem Verfahren hergestellt. Das Fermentieren von Gemüse jedoch findet in der Schweiz nur bei wenigen Küchenchefs und Entremetiers Beachtung. Schade, denn durch die kontrollierte Verrottung Sturzeneggerentstehen mitunter spannende Säuren und Texturen. Dafür sind Bakterien und Pilze verantwortlich – je nachdem, welche der zahlreichen Fermentationstechniken angewendet wird. Aber keine Sorge: Was nach Laborarbeit klingt, ist in Realität kein Hexenwerk.
Kraut für Seefahrer
So viel vorweg: Weltweit existieren diverse unterschiedliche Fermentationsverfahren, angefangen bei der japanischen Miso, die mit dem Koji-Schimmelpilz vergoren wird, über den Essig, der durch Essigsäurebakterien entsteht, bis hin zu Borschtsch, Kimchi und Sauerkraut, welche allesamt mit Milchsäurebakterien fermentiert werden. In der Schweiz ist die Milchsäuregärung die bekannteste Methode. Sauerkraut kennt schliesslich jeder. Bereits die Seefahrer schätzten das fermentierte Weisskraut als vitaminreiche, haltbare Nahrung auf hoher See. Milchsäurebakterien, auch Laktobazillen genannt, bauen Zucker zu Milchsäure ab und spielen bei der Herstellung von Joghurt, Käse oder Sauerteigen eine wichtige Rolle.
Als Faustregel gilt: Jedes Gemüse, das auch roh gut schmeckt, kann milchsauer vergoren werden. Das bestätigt auch Thomas Vilgis. Er ist Physiker am Max- Planck-Institut für Polymerforschung und interessiert sich sowohl beruflich als auch privat für diverse Kochmethoden und deren physikalische Prozesse. In seiner Versuchsküche liess er unterschiedliche Gemüsesorten milchsauer vergären und ist besonders von der entstandenen Flüssigkeit angetan: «Der Saft weist eine schöne milde Säure auf, hat aber einen weit weniger beissenden Geschmack als Essig», sagt er. «Fermentationen sind ein molekulares Niedrigtemperatur-Garen», schreibt der Forscher in seinem aktuellen Bericht zur Fermentation im «Journal Culinaire». Anders gesagt: Zu lange fermentiertes Gemüse verliert zu viel an Biss, fast so als ob es verkocht wäre.
Niederländische Gärtrilogie
Als Fachmann der Fermentation kann man den niederländischen mit drei Michelin-Sternen dotierten Koch Jonnie Boer bezeichnen. An der «Chef Alps 2013» in Zürich gewährte er seinen Kollegen einen spannenden Einblick in seine Fermentationskünste. Der Küchenchef des Restaurants De Librije macht sich das kontrollierte Verrotten bereits seit vielen Jahren zu Nutze, um an neue, ausgewogene Säuren für seine Gerichte zu gelangen. «Essig, Zitrone und Cidre eignen sich in der Küche hervorragend. Aber nach acht Gängen mit immer denselben Säuren wird es langweilig», sagt der Küchenchef.
Boer arbeitet mit drei unterschiedlichen Fermentationstechniken. Erstens mit einem Ferment, das aus Getreide und Gemüse besteht und aus dem er den Saft gewinnt, diesen destilliert und als Marinade und zum Abschmecken einsetzt. Zweitens hält er sich zahlreiche Kombucha-Pilze – dazu später mehr. Und drittens setzt Boer auf die Gärung mit Milchsäurebakterien, notabene seine Lieblingsdisziplin.
Wie es sich für einen Drei-Sterne-Koch gehört, ist seine Technik bis ins letzte Detail ausgefeilt. Für das Milchsäure- Ferment saftet er Gemüse, gibt nach Bedarf ein Bouquet mit etwas Zwiebeln dazu sowie eine kleingeschnittene Auster, welche den Zerfall beschleunigt. Nach nur drei Tagen liegt der pH-Wert bei drei, der erste Gärprozess ist damit abgeschlossen. Im vergorenen Saft legt Boer Gemüse ein, vakuumiert es und lässt es wiederum zwei bis drei Wochen lang ruhen. «Da der pH-Wert stabil bleibt, könnte man das Gemüse auch ein Jahr darin einlegen, was allerdings schade wäre, da die Säure die Eigenaromen des Gemüses überdecken würde. Bei einer Marinierzeit von rund zwei Wochen erhält das Gemüse einen ausgewogenen Geschmack, bestehend aus Säuren und Eigenaromen», sagt Boer.