20.11.2016 Salz & Pfeffer 8/2013

Gemüse in der Hauptrolle

Text: Regula Lehmann – Fotos: Tina Sturzenegger
Milchsäurebakterien und Pilze als kleine Helfer in der Küche? Warum nicht. Bei der Gemüsefermentation werden diese Agenten des Zerfalls gezielt eingesetzt.
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«Die meisten begreifen gar nicht, worum es dabei eigentlich geht.»

Beilage? Von wegen. Gemüse ist längst mehr als Beigemüse. Es bietet dem Koch ungemein viel Raum für Kreativität. Punkto Zubereitung, beispielsweise. Braten, Kochen, Dämpfen und Pürieren sind das Eine. Nun macht sich eine weitere Zubereitungsart bemerkbar, die besonders in Japan und Korea weit verbreitet und in den USA und Skandinavien populär ist: die Kunst der Gemüsefermentation.

Diese Methode des Haltbarmachens ist uralt, könnte man jetzt monieren. Das stimmt. Sowohl Bier, Schokolade als auch Sojasaucen werden in diesem Verfahren hergestellt. Das Fermentieren von Gemüse jedoch findet in der Schweiz nur bei wenigen Küchenchefs und Entremetiers Beachtung. Schade, denn durch die kontrollierte Verrottung Sturzeneggerentstehen mitunter spannende Säuren und Texturen. Dafür sind Bakterien und Pilze verantwortlich – je nachdem, welche der zahlreichen Fermentationstechniken angewendet wird. Aber keine Sorge: Was nach Laborarbeit klingt, ist in Realität kein Hexenwerk.

Kraut für Seefahrer
So viel vorweg: Weltweit existieren diverse unterschiedliche Fermentationsverfahren, angefangen bei der japanischen Miso, die mit dem Koji-Schimmelpilz vergoren wird, über den Essig, der durch Essigsäurebakterien entsteht, bis hin zu Borschtsch, Kimchi und Sauerkraut, welche allesamt mit Milchsäurebakterien fermentiert werden. In der Schweiz ist die Milchsäuregärung die bekannteste Methode. Sauerkraut kennt schliesslich jeder. Bereits die Seefahrer schätzten das fermentierte Weisskraut als vitaminreiche, haltbare Nahrung auf hoher See. Milchsäurebakterien, auch Laktobazillen genannt, bauen Zucker zu Milchsäure ab und spielen bei der Herstellung von Joghurt, Käse oder Sauerteigen eine wichtige Rolle.

Als Faustregel gilt: Jedes Gemüse, das auch roh gut schmeckt, kann milchsauer vergoren werden. Das bestätigt auch Thomas Vilgis. Er ist Physiker am Max- Planck-Institut für Polymerforschung und interessiert sich sowohl beruflich als auch privat für diverse Kochmethoden und deren physikalische Prozesse. In seiner Versuchsküche liess er unterschiedliche Gemüsesorten milchsauer vergären und ist besonders von der entstandenen Flüssigkeit angetan: «Der Saft weist eine schöne milde Säure auf, hat aber einen weit weniger beissenden Geschmack als Essig», sagt er. «Fermentationen sind ein molekulares Niedrigtemperatur-Garen», schreibt der Forscher in seinem aktuellen Bericht zur Fermentation im «Journal Culinaire». Anders gesagt: Zu lange fermentiertes Gemüse verliert zu viel an Biss, fast so als ob es verkocht wäre.

Niederländische Gärtrilogie
Als Fachmann der Fermentation kann man den niederländischen mit drei Michelin-Sternen dotierten Koch Jonnie Boer bezeichnen. An der «Chef Alps 2013» in Zürich gewährte er seinen Kollegen einen spannenden Einblick in seine Fermentationskünste. Der Küchenchef des Restaurants De Librije macht sich das kontrollierte Verrotten bereits seit vielen Jahren zu Nutze, um an neue, ausgewogene Säuren für seine Gerichte zu gelangen. «Essig, Zitrone und Cidre eignen sich in der Küche hervorragend. Aber nach acht Gängen mit immer denselben Säuren wird es langweilig», sagt der Küchenchef.

Boer arbeitet mit drei unterschiedlichen Fermentationstechniken. Erstens mit einem Ferment, das aus Getreide und Gemüse besteht und aus dem er den Saft gewinnt, diesen destilliert und als Marinade und zum Abschmecken einsetzt. Zweitens hält er sich zahlreiche Kombucha-Pilze – dazu später mehr. Und drittens setzt Boer auf die Gärung mit Milchsäurebakterien, notabene seine Lieblingsdisziplin.

Wie es sich für einen Drei-Sterne-Koch gehört, ist seine Technik bis ins letzte Detail ausgefeilt. Für das Milchsäure- Ferment saftet er Gemüse, gibt nach Bedarf ein Bouquet mit etwas Zwiebeln dazu sowie eine kleingeschnittene Auster, welche den Zerfall beschleunigt. Nach nur drei Tagen liegt der pH-Wert bei drei, der erste Gärprozess ist damit abgeschlossen. Im vergorenen Saft legt Boer Gemüse ein, vakuumiert es und lässt es wiederum zwei bis drei Wochen lang ruhen. «Da der pH-Wert stabil bleibt, könnte man das Gemüse auch ein Jahr darin einlegen, was allerdings schade wäre, da die Säure die Eigenaromen des Gemüses überdecken würde. Bei einer Marinierzeit von rund zwei Wochen erhält das Gemüse einen ausgewogenen Geschmack, bestehend aus Säuren und Eigenaromen», sagt Boer.

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Fast wie ein Haustier
Und welche Fermentationstechnik würde er denn einem Einsteiger empfehlen? «Am einfachsten ist die Arbeit mit Kombucha, da man dazu Rezepte im Internet findet», so Jonnie Boer. Mit seinem Kombucha-Pilz hat er die Schweizer Küchenchefs an der «Chef Alps» verblüfft, als er das wabbelige Ding in die Kamera hielt und erklärte, dass er in dessen fermentierten Säften nicht nur Gemüse, sondern auch Langusten einlegt. Damit erzielt er eine ähnliche Textur, wie wenn er die Languste kurz kochen würde. Diesen Effekt kennt man vom «sauren Hering».

Kombucha ist genaugenommen ein Schwamm. Und dieser will ständig gehegt und gepflegt sein. Er besteht aus Hefepilzen, die Alkohol produzieren, und Essigsäurebakterien, die den Alkohol zu einer milden Säure verstoffwechseln. Wer ein Händchen für den Pilz hat, kann ihn über mehrere Jahre lang verwenden, ja sogar vermehren. In Jonnie Boers Küche stehen drei 40-Liter-Kanister, im eigenen Gewächshaus drei 200-Liter-Kanister. In jedem Behälter schwimmt ein Schwamm, den Boer regelmässig mit einem eigens dafür gebrauten Sud füttert. Dazu mischt er vitalisiertes Wasser mit Glukose und gibt Verveine oder Lemongeranium bei. Im Februar zapft er jeweils Birken an, um aus deren Saft einen Nahrungssud für seine Schwämme zu brauen. Die Qualität der Nahrung ist wichtig, und im Gegensatz zu herkömmlichen Kombuchas erhält Boer deshalb einen klaren Kombucha-Saft. Die kleineren Pilze benötigen übrigens zirka zwei bis drei Wochen, bis sie die Fermentation abgeschlossen haben. Danach werden die Schwämme entfernt, gewaschen und in einem neuen Sud angesetzt. Irgendwie erinnert dieses Hegen und Pflegen an ein Haustier. «Nein, so aufwändig ist es nicht», sagt der Küchenchef, «ich muss lediglich alle zwei bis drei Tage kontrollieren, ob der pH-Wert stimmt. Wenn nicht, könnte der Pilz sterben.»

Der Küchenchef mag den ganzen Aufruhr rund um die Fermentation überhaupt nicht. «Das Wort Fermentation ist ein Hype. Die meisten begreifen gar nicht, worum es dabei eigentlich geht.» Obschon Boer seit nunmehr 20 Jahren mit diversen Agenten der Verrottung zusammenarbeitet, verrät er seinen Gästen nicht, dass er es tut.

Schweizer Experimente
Fermentiertes Stillschweigen also. Das herrscht mehrheitlich auch in den Schweizer Küchen. Es bedurfte einiger Recherche, um helvetische Vergärungskünstler aufzutreiben. Einer davon geht bei Stefan Wiesner im «Rössli Escholzmatt» seinem Handwerk nach. Sandro Camiolo ist Chef de Partie und experimentiert insbesondere mit Kefirbakterien, welche ebenfalls zu den Milchsäurebazillen gehören. Auf der aktuellen Karte führt das «Rössli» den fermentierten Fenchel zwar auf, einen Hype daraus macht man jedoch auch hier nicht. «Vergorene Zutaten gehören zum Menü dazu. Ein milchsauer vergorenes Gemüse etwa oder eine Miso», erklärt Sandro Camiolo.

Stefan Wiesner und sein Team arbeiten seit zehn Jahren mit fermentierten Zutaten, diese Zubereitungsart ist für sie ganz normal. Bereits 2003 stellte Stefan Wiesner in seinem Buch «Gold Holz Stein» (AT Verlag) ein Rezept für Forelle Blau mit eingesäuerten Karotten vor. Auf Seite 166 geht er denn auch näher auf die Vergärung mit Milchsäure ein – lange bevor diese Kochtechnik bei seinen Kollegen populär wurde.

Am Vierwaldstättersee haben wir indes einen Entremetier aufgetrieben, der das Handwerk der Fermentation während seinen Wanderjahren in Norwegen und Schweden erlernte: Tobias Zihlmann. Er ist Entremetier an der Seite von Nenad Mlinarevic im Restaurant Focus im Park Hotel Vitznau und hat sich unter anderem der Fermentation von Gemüsesäften sowie von rohem Gemüse verschrieben. Seine Fermente setzt er entweder mit Salz oder Molke an. Letztere Methode erachtet er als effektiver, da die Gärung schneller vorankommt und es erst noch sicherer ist, dass sie gelingt. «Ich vergäre sowohl Kohl, Sellerie, Lauch als auch Karotten sowie deren Säfte», erklärt Zihlmann, «das Ergebnis ist besonders für Vegetarier interessant, da ich damit eine angemessene und spannende Alternative zu Fleischsaucen bieten kann.» Als Essenz für die Saucen verwendet der Entremetier den Saft, der beim Vergären entsteht. Ebenso verfährt er bei der Herstellung seiner Vinaigretten, die mit mild-säuerlichen Noten überzeugen.

Doch wie steht es mit der Fermentation des Gemüses? «Dazu verwende ich die Säfte, die bei der ersten Fermentation entstanden sind, mariniere das Gemüse damit und lasse dem Gärprozess weitere vier Wochen Zeit.» Besonders schöne Aromen konnte er bisher aus Karotten erzielen, die er im vorvergorenen Karottensaft fermentierte. «Für diese Zubereitungsmethode bedarf es besonders hochwertiger Gemüse, da die Aromen um ein Vielfaches intensiviert werden», so Zihlmann.

In den zahlreichen Fermentationstechniken steckt grosses Potenzial. Etwas erschwerend ist allerdings, dass nur wenig Literatur dazu vorhanden ist und dass die Experimente viel Zeit in Anspruch nehmen. Zudem will jeder Koch sicher sein, dass das Resultat einer mit Pilzen und Bakterien hergestellten Zutat nicht nur schmackhaft, sondern für den Gast auch garantiert bekömmlich ist. Jonnie Boer liess seine drei Fermentationsverfahren deshalb auf die gesundheitliche Sicherheit von einem Institut prüfen und bestätigen. In der Schweiz übernimmt einen solchen Test beispielsweise das Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. In diesem Sinne: fröhliches Experimentieren!

Fermentationen unterliegen komplexen, physikalischen Prozessen. Die aktuelle Ausgabe des «Journal Culinaire», des Magazins mit den neusten Forschungsergebnissen in Sachen Kulinaristik, beschäftigt sich mit dem Thema Fermentation. Der Autor Thomas Vilgis, Physiker am Max-Planck-Institut, erklärt in seinem Artikel die Prozesse, die sich bei den diversen Fermentationsarten ereignen, und die Auswirkungen, die diese auf die molekulare Struktur haben.
www.journal-culinaire.de

Das Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation prüft Fermentationsprozesse und -produkte auf ihre Sicherheit und bietet diesbezüglich auch Beratungen an.
www.lsfm.zhaw.ch

Der Kombucha-Pilz (auch Tee-Pilz genannt) stammt ursprünglich aus Korea. Der Legende nach soll ein koreanischer Arzt im vierten Jahrhundert den japanischen Kaiser mit dem Tee-Pilz-Getränk von seinem Magenleiden geheilt haben. Kombucha muss stets gehegt und gepflegt werden. Einige Quellen besagen, er liebe gezuckerten Teesud. Jonnie Boer füttert ihn im Frühling mit frisch gezapftem Birkensaft, den er mit Glukose, Zucker und etwas Honig anreichert. Manchmal verwendet er auch Grüntee und ergänzt den Sud mit weiteren Gewürzen, etwa Vanille. Nach der Fütterung ruht der Pilz an einem etwa 20 Grad warmen, dunklen Platz rund fünf bis 14 Tage. Ist die Fermentation abgeschlossen, wird die Flüssigkeit entnommen. Sie eignet sich entweder als Getränk, für Saucen oder zum Marinieren von Gemüsen sowie Meeresfrüchten. Streng genommen ist Kombucha kein Pilz, sondern eine Symbiose verschiedener Hefen und Essigsäurebakterien. Bei der Fermentation entstehen denn auch Essig- und Milchsäure. Der fermentierte Sud schmeckt je nach Zutat leicht süss-sauer bis malzig.

Milchsäurebakterien sind weit verbreitet. Sie besiedeln fast alles, was organisch ist, sowohl Menschenhaut als auch Milch und Gemüse. Damit sich die Bazillen schnell vermehren, muss der Koch einen optimalen Nährboden schaffen, indem er das Gemüse klein schneidet, zu Saft verarbeitet oder stichelt. Kurz, die Zellstrukturen müssen verletzt werden, damit das beigefügte Salz dem Gemüse das Wasser entzieht. Im sauberen Gärtopf und unter sauerstofffreien Bedingungen wandeln die sogenannten Laktobazillen Zucker in Milchsäure um. Dafür benötigen sie bei Zimmertemperatur rund vier Wochen. Die Zugabe von Kefir-Laktobakterien oder Austern beschleunigt den Prozess. Vorsicht: Bei unsauberer Arbeitsweise könnten giftige Schimmelpilze entstehen, deshalb muss die Fermentation gut überwacht und bei Befall komplett entsorgt werden.