
Die klassische französische Küche gilt nicht als leicht und bekömmlich, ja sogar manchmal als aus der Zeit gefallen und unmodern. Diese angeblichen Defizite macht sie allerdings wett durch ihre emotionale Zugänglichkeit: Viele, die einmal das Schlaraffenland von butterigen Suppen und Saucen betreten haben, die ihr Werk im Zusammenspiel mit sorgfältig ausgewählten und schön zubereiteten tierischen Proteinen vollbringen, werden immer eine gewisse Sehnsucht verspüren nach der gesättigten Glücklichkeit, die sich zum Beispiel nach dem Verzehr eines Châteaubriand mit opulenter Sauce béarnaise und Pommes Duchesse einstellt.
Dieser Art des Genusses, die das Körperlich-Emotionale vor den technisch-zerebralen Anspruch stellt, hat der Bieler Unternehmer Patrik Mürner in seinem Perroquet Vert (zu Deutsch: grüner Papagei) ein Denkmal gesetzt, das zwischen Genf und Kreuzlingen, Basel und Lugano seinesgleichen sucht.
Genauer gesagt hat Mürner hier eine Theaterbühne der Gastfreundschaft aufgezogen. Die Kellner wie auch die Küchenmannschaft, grösstenteils aus dem nahe gelegenen Frankreich stammend, sind adrett in schwarze Anzüge gekleidet, ohne Jackett, aber mit Fliege. Sie würden auch in der Zürcher Kronenhalle «bella figura» machen.
Impresario Mürner himself tritt deutlich legerer auf. Mit seinen pastellfarbenen Hosen und Weste und dazu einem braunen Foulard könnte er ebenso gut als Intendant eines Schauspielhauses durchgehen. Und damit liegt man biografisch gar nicht weit daneben: Patrik Mürner, Sohn eines Spediteurs im Dienste der autochthonen Uhrenindustrie, hat Germanistik studiert und war auch längere Zeit am Musiktheater Biel beschäftigt, als dieses die Karriere zahlreicher Schweizer Künstler begründete. Das war in den 1990er-Jahren.
Schon als Kind begleitete er seinen Vater auf Reisen, um die Uhren aus Biel und aus dem nahe gelegenen Jura in die Welt hinauszutragen, bis nach Asien – eine Profession, der er als Nachfolger seines Vaters diskret und verschwiegen bis heute frönt. Besonders fasziniert war er in jungen Jahren von den Metropolen Paris und Wien. Und diese waren es denn auch, die in ihm die kulturelle Saat für sein heutiges Perroquet Vert reifen liessen: die klassische französische Küche und das ganz besondere Timbre alteingesessener Wiener Kaffeehäuser.
Vor zehn Jahren hat er beides zu einer durchaus etwas schrägen Mélange vermählt: Im Perroquet Vert kann man mittags und abends speisen wie in einer guten Pariser Brasserie. Und ganztags – das Lokal öffnet seine Türen um 8 Uhr und schliesst gegen Mitternacht – entweder einfach einen Kaffee trinken oder eine elegante Ausführung des Café complet geniessen mit allerlei Gebäck, Lachs und hausgemachter Terrine. «Ein echt traditionelles Wiener Kaffeehaus serviert das Frühstück auch ganztags», sagt Mürner.
Die Kellner im grünen Papagei haben strengste Anweisung, jeden Gast zuvorkommend zu behandeln. Egal, ob er nur ein Getränk zu sich nimmt, spätabends ein Dessert, oder ob er sich ein ausgiebiges Mahl genehmigt. Salz&Pfeffer hat den Weg nach Biel natürlich mit der zweiten Zielsetzung unter die Füsse genommen: Essen und trinken wollen wir wie sprichwörtlich Gott in Frankreich!
In Biel? Zum Glück ist die Stadt dank der Swatch Group nach wie vor ein Epizentrum der Uhrenindustrie. In gastronomischer und ästhetischer Hinsicht hat sie allerdings leider ziemlich viel von der in lang verflossenen Jahrzehnten durchaus vorhandenen Grandezza eingebüsst. Gäbe es den Perroquet Vert nicht – mit seinen minim zu missgünstig veranlagten 13 Gault-Millau-Punkten hier ein verhältnismässiger Glanzpunkt der Haute Cuisine – man müsste die Stadt beinahe von der Restaurant-Landkarte der Schweiz streichen. (Was weniger für das Umland gilt; in der Räblus am Bielersee kann man zum Beispiel hervorragende Eglifilets essen.)
Aber zurück zur Sache: Schon bei der äusserlichen Anmutung sticht das Perroquet Vert positiv aus der belebten, aber etwas tristen Einkaufsstrasse hervor. «Bern ist von Biel weiter entfernt als Hongkong», so das weltumspannende Credo unseres Gastgebers. Die vor dem Restaurant sorgsam drapierten Brasserie-Tischlein mit grüner Tischplatte überzeugen, in Verbindung mit den zur Verfügung gestellten elektrischen Wärmekissen, sogar an einem regnerischen Februartag den einen oder anderen Gast, draussen zu verweilen.
Wer, wie wir, die eigentliche Wirtsstube betreten möchte, der tut dies durch einen dunkelgrünen Türvorhang und lässt die an diesem Tag unwirtliche Aussenwelt schlagartig hinter sich. Das Interieur ist eine Aufmerksamkeit heischende Mischung aus traditioneller Bieler Stadthausarchitektur mit markanten Holzbalken, die in Paris gewiss filigraner ausgefallen wären, grossen Fenstern und dem Maximum an Stilelementen der Belle Époque, die sich in diesem Kontext verwirklichen liessen. «Jugendstil ist mein Ding», sagt Patrik Mürner. Die Tapete, die zur Schalldämmung mit einer Watteschicht verkleidet ist, kommt im englischen Liberty-Style daher, die Lampen entstammen dem französischen Art nouveau und die Stühle dem Wiener Jugendstil.
Eine erste, sehr gute Visitenkarte der gastronomischen Kultur des Hauses legt die Weinkarte ab. Über 20 Rot- und Weissweine gibt es hier im Offenausschank. Als ersten Aperitif, begleitet von charmantem, etwas angewärmtem Blätterteiggebäck mit integrierten Oliven und Tomaten, gibt es einen Chablis. Zwar keine «découverte» aus einer anderen Welt, aber allemal charmant zu trinken.
Auf mannshohen Schiefertafeln kommt die Auswahl der Speisen daher: Eine mit Entenleber gefüllte Wachtel entdecken wir, ebenso wie die berühmte Soupe V.G.E., einst kreiert von Paul Bocuse, eine mit Blätterteig überbackene Komposition aus Rindfleisch, Pilzen und vor allem schwarzem Trüffel – «Das ist ein strikt saisonales Gericht», erklärt Gastgeber Patrik Mürner, «erhältlich nur, solange die Trüffelsaison andauert.» Weltweit gilt: Unter den Hauptgängen mit Rindsfilet sticht das Châteaubriand hervor wie die Mercedes-G-Klasse unter den Geländewagen. Im Perroquet Vert wird der Klassiker um Ostern abgelöst vom Entrecôte double und im Herbst von Mürners berühmtem Rehrücken für zwei.
Zu Beginn unseres Déjeuner kommt die hausgemachte Kalbfleischterrine mit integrierter Baumnuss und gekochter Brennnessel auf den Teller. Der mit Schmalz ummantelte Fleischkuchen ist bäuerlich-brachial, eine unapologetische Hommage an die alles andere als zeitgenössische Terrinenmacher-Kunst. Dabei hebt die wohl dosierte Brennnessel mit ihrer kernigen, entfernt an Bärlauch erinnernden Kratzigkeit das Gericht in seiner aromatischen Qualität.
Das reichhaltige Repertoire der klassischen Kochkunst «à la française» verdeutlichen die beiden nächsten Vorspeisen: Die perfekt gegarte Jakobsmuschel schmiegt sich wohlig in ein Ensemble aus einer Zitronengras-Sauce auf Ei- und Butterbasis und dezent gepickelten Wintergemüsen. Ein tolles Gericht, hinter dem sich auch eine Sterneküche nicht verstecken müsste. Die Fortsetzung, immer noch aus dem Grossreich der Vorspeisen, fällt gastronomisch etwas weniger anspruchsvoll aus, dafür aber umso seltener und spezieller: gebratene Entenleber! Gibt es das noch? Leider selten, was schade ist: Eine wie hier auf den Punkt gebratene Leber von Edelgeflügel wie Ente oder Gans schmiegt sich in umami-geladener Überschwänglichkeit an den Gaumen. Bravo, bravissimo!