02.04.2025 Salz&Pfeffer Ausgabe 1/2025

Hallo, hier spricht der grüne Papagei

Text: Florian Schwab – Fotos: Njazi Nivokazi
In Biel, of all places, führt der gastronomische Quereinsteiger Patrik Mürner ein einzigartig opulentes Lokal. Hier trifft Wiener Kaffeehauskultur auf eine hochwertige Brasserie-Küche. Sein Perroquet Vert ist ein gastronomisches Schauspielhaus, in dem die Glückshormone fliessen.
Die Kellner des Perroquet Vert stammen grösstenteils aus dem nahen Frankreich.
2025.02.13 Salz Und Pfeffer Biel 31

Die klassische französische Küche gilt nicht als leicht und bekömmlich, ja sogar manchmal als aus der Zeit gefallen und unmodern. Diese angeblichen Defizite macht sie allerdings wett durch ihre emotionale Zugänglichkeit: Viele, die einmal das Schlaraffenland von butterigen Suppen und Saucen betreten haben, die ihr Werk im Zusammenspiel mit sorgfältig ausgewählten und schön zubereiteten tierischen Proteinen vollbringen, werden immer eine gewisse Sehnsucht verspüren nach der gesättigten Glücklichkeit, die sich zum Beispiel nach dem Verzehr eines Châteaubriand mit opulenter Sauce béarnaise und Pommes Duchesse einstellt.

Dieser Art des Genusses, die das Körperlich-Emotionale vor den technisch-zerebralen Anspruch stellt, hat der Bieler Unternehmer Patrik Mürner in seinem Perroquet Vert (zu Deutsch: grüner Papagei) ein Denkmal gesetzt, das zwischen Genf und Kreuzlingen, Basel und Lugano seinesgleichen sucht.

Genauer gesagt hat Mürner hier eine Theaterbühne der Gastfreundschaft aufgezogen. Die Kellner wie auch die Küchenmannschaft, grösstenteils aus dem nahe gelegenen Frankreich stammend, sind adrett in schwarze Anzüge gekleidet, ohne Jackett, aber mit Fliege. Sie würden auch in der Zürcher Kronenhalle «bella figura» machen.

Impresario Mürner himself tritt deutlich legerer auf. Mit seinen pastellfarbenen Hosen und Weste und dazu einem braunen Foulard könnte er ebenso gut als Intendant eines Schauspielhauses durchgehen. Und damit liegt man biografisch gar nicht weit daneben: Patrik Mürner, Sohn eines Spediteurs im Dienste der autochthonen Uhrenindustrie, hat Germanistik studiert und war auch längere Zeit am Musiktheater Biel beschäftigt, als dieses die Karriere zahlreicher Schweizer Künstler begründete. Das war in den 1990er-Jahren.

Schon als Kind begleitete er seinen Vater auf Reisen, um die Uhren aus Biel und aus dem nahe gelegenen Jura in die Welt hinauszutragen, bis nach Asien – eine Profession, der er als Nachfolger seines Vaters diskret und verschwiegen bis heute frönt. Besonders fasziniert war er in jungen Jahren von den Metropolen Paris und Wien. Und diese waren es denn auch, die in ihm die kulturelle Saat für sein heutiges Perroquet Vert reifen liessen: die klassische französische Küche und das ganz besondere Timbre alteingesessener Wiener Kaffeehäuser.

Vor zehn Jahren hat er beides zu einer durchaus etwas schrägen Mélange vermählt: Im Perroquet Vert kann man mittags und abends speisen wie in einer guten Pariser Brasserie. Und ganztags – das Lokal öffnet seine Türen um 8 Uhr und schliesst gegen Mitternacht – entweder einfach einen Kaffee trinken oder eine elegante Ausführung des Café complet geniessen mit allerlei Gebäck, Lachs und hausgemachter Terrine. «Ein echt traditionelles Wiener Kaffeehaus serviert das Frühstück auch ganztags», sagt Mürner.

Die Kellner im grünen Papagei haben strengste Anweisung, jeden Gast zuvorkommend zu behandeln. Egal, ob er nur ein Getränk zu sich nimmt, spätabends ein Dessert, oder ob er sich ein ausgiebiges Mahl genehmigt. Salz&Pfeffer hat den Weg nach Biel natürlich mit der zweiten Zielsetzung unter die Füsse genommen: Essen und trinken wollen wir wie sprichwörtlich Gott in Frankreich!

In Biel? Zum Glück ist die Stadt dank der Swatch Group nach wie vor ein Epizentrum der Uhrenindustrie. In gastronomischer und ästhetischer Hinsicht hat sie allerdings leider ziemlich viel von der in lang verflossenen Jahrzehnten durchaus vorhandenen Grandezza eingebüsst. Gäbe es den Perroquet Vert nicht – mit seinen minim zu missgünstig veranlagten 13 Gault-Millau-Punkten hier ein verhältnismässiger Glanzpunkt der Haute Cuisine – man müsste die Stadt beinahe von der Restaurant-Landkarte der Schweiz streichen. (Was weniger für das Umland gilt; in der Räblus am Bielersee kann man zum Beispiel hervorragende Eglifilets essen.)

Aber zurück zur Sache: Schon bei der äusserlichen Anmutung sticht das Perroquet Vert positiv aus der belebten, aber etwas tristen Einkaufsstrasse hervor. «Bern ist von Biel weiter entfernt als Hongkong», so das weltumspannende Credo unseres Gastgebers. Die vor dem Restaurant sorgsam drapierten Brasserie-Tischlein mit grüner Tischplatte überzeugen, in Verbindung mit den zur Verfügung gestellten elektrischen Wärmekissen, sogar an einem regnerischen Februartag den einen oder anderen Gast, draussen zu verweilen.

Wer, wie wir, die eigentliche Wirtsstube betreten möchte, der tut dies durch einen dunkelgrünen Türvorhang und lässt die an diesem Tag unwirtliche Aussenwelt schlagartig hinter sich. Das Interieur ist eine Aufmerksamkeit heischende Mischung aus traditioneller Bieler Stadthausarchitektur mit markanten Holzbalken, die in Paris gewiss filigraner ausgefallen wären, grossen Fenstern und dem Maximum an Stilelementen der Belle Époque, die sich in diesem Kontext verwirklichen liessen. «Jugendstil ist mein Ding», sagt Patrik Mürner. Die Tapete, die zur Schalldämmung mit einer Watteschicht verkleidet ist, kommt im englischen Liberty-Style daher, die Lampen entstammen dem französischen Art nouveau und die Stühle dem Wiener Jugendstil.

Eine erste, sehr gute Visitenkarte der gastronomischen Kultur des Hauses legt die Weinkarte ab. Über 20 Rot- und Weissweine gibt es hier im Offenausschank. Als ersten Aperitif, begleitet von charmantem, etwas angewärmtem Blätterteiggebäck mit integrierten Oliven und Tomaten, gibt es einen Chablis. Zwar keine «découverte» aus einer anderen Welt, aber allemal charmant zu trinken.

Auf mannshohen Schiefertafeln kommt die Auswahl der Speisen daher: Eine mit Entenleber gefüllte Wachtel entdecken wir, ebenso wie die berühmte Soupe V.G.E., einst kreiert von Paul Bocuse, eine mit Blätterteig überbackene Komposition aus Rindfleisch, Pilzen und vor allem schwarzem Trüffel – «Das ist ein strikt saisonales Gericht», erklärt Gastgeber Patrik Mürner, «erhältlich nur, solange die Trüffelsaison andauert.» Weltweit gilt: Unter den Hauptgängen mit Rindsfilet sticht das Châteaubriand hervor wie die Mercedes-G-Klasse unter den Geländewagen. Im Perroquet Vert wird der Klassiker um Ostern abgelöst vom Entrecôte double und im Herbst von Mürners berühmtem Rehrücken für zwei.

Zu Beginn unseres Déjeuner kommt die hausgemachte Kalbfleischterrine mit integrierter Baumnuss und gekochter Brennnessel auf den Teller. Der mit Schmalz ummantelte Fleischkuchen ist bäuerlich-brachial, eine unapologetische Hommage an die alles andere als zeitgenössische Terrinenmacher-Kunst. Dabei hebt die wohl dosierte Brennnessel mit ihrer kernigen, entfernt an Bärlauch erinnernden Kratzigkeit das Gericht in seiner aromatischen Qualität.

Das reichhaltige Repertoire der klassischen Kochkunst «à la française» verdeutlichen die beiden nächsten Vorspeisen: Die perfekt gegarte Jakobsmuschel schmiegt sich wohlig in ein Ensemble aus einer Zitronengras-Sauce auf Ei- und Butterbasis und dezent gepickelten Wintergemüsen. Ein tolles Gericht, hinter dem sich auch eine Sterneküche nicht verstecken müsste. Die Fortsetzung, immer noch aus dem Grossreich der Vorspeisen, fällt gastronomisch etwas weniger anspruchsvoll aus, dafür aber umso seltener und spezieller: gebratene Entenleber! Gibt es das noch? Leider selten, was schade ist: Eine wie hier auf den Punkt gebratene Leber von Edelgeflügel wie Ente oder Gans schmiegt sich in umami-geladener Überschwänglichkeit an den Gaumen. Bravo, bravissimo!

Prächtige Vorspeise: Jakobsmuschel, Wintergemüse und Zitronengras-Sauce
Prächtige Vorspeise: Jakobsmuschel, Wintergemüse und Zitronengras-Sauce
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2025.02.13 Salz Und Pfeffer Biel 68
Die Bar stand von 1880 bis 1978 im Hotel Sacher in Wien.
Die Bar stand von 1880 bis 1978 im Hotel Sacher in Wien.
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Wer denn in seiner Küche als Chefkoch wirke?, erkundigen wir uns beim Herrn des Hauses. Ein delikater Punkt, denn der letzte Chef verliess den Perroquet Vert an einem Samstagabend um 20 Uhr. «Mitten im Abendservice packte er seine Messer und ward nie mehr gesehen», erinnert sich Mürner. Das war letztes Jahr. Seither pflege er das Kollegialitätsprinzip: Es gibt keinen offiziellen Chefkoch mehr («der bin ich»), stattdessen sei jeder der vier federführenden Köche, die der klassischen Aufteilung nach kalten Speisen (Entremétier), warmen Gerichten, Patissier und Blancheur folgen, gefordert. «Wenn einer eine Idee für ein Gericht hat, probieren wir es alle und arbeiten gemeinsam daran.»

Ihren zweiten Auftritt hat die unverschämt gute Entenleber als Füllung in der Wachtelbrust – aufgrund der possierlichen Dimensionen dieses Vogels eine technisch durchaus anspruchsvolle Komposition. Auch hier lässt die Küche nichts auf sich kommen und liefert treffsicher ab. An dieser Stelle fällt uns die einfalls- und abwechslungsreiche Gemüsebegleitung der Gerichte auf: In müheloser und auch liebevoller Variation trägt man im Perroquet Vert Schwarzwurzeln, Rüebli, Erbsen und Bohnen (natürlich mit Speck) auf.

Womit wir nun den Höhepunkt in der Spannungskurve erklimmen: das Châteaubriand. Schon Auguste Escoffier, der Stammvater der kodifizierten französischen Kochkunst, benannte das Mittelstück vom Rindsfilet als «Herz des Filets». Das für zwei Personen konzipierte Gericht wird fachgerecht am Tisch tranchiert. Auch geübte Restaurantgänger müssen allerdings tief im Gedächtnis forschen, wollen sie ein Lokal finden, in dem das Fleisch in derartiger Opulenz aufgetragen wird wie hier in Biel. Das imposante Fleischstück, das zu allem Überfluss mit Sauce béarnaise und Pommes Duchesse (in eine Form gespritzte und gebackene Kartoffel-Mousseline) daherkommt, kratzt übermütig an der Ein-Kilo-Marke. Und es ist – wir bitten das aus der Region stammende Rind um Entschuldigung für die Wortwahl – einfach saugut. Die Kombination aus aromatisch-zartem, mit Röstaromen überzogenem Fleisch, säuerlichen Estragonnoten und Butter im Quadrat könnte, philosophisch betrachtet, durchaus als Gottesbeweis belastbar sein.

Insbesondere in Kombination mit dem Château Bardins 2015, einem biologisch angebauten Bordeaux, den wir auf Empfehlung von Inhaber Patrik Mürner trinken. Ein sehr überzeugender Graves unter 100 Franken, der mit seiner üppigen Cabernet-Frucht und den fein eingebundenen Tanninen vermutlich auf dem Zenit seiner Wirkungsmacht steht: Da capo!

Auf seiner Weinkarte hat der Perroquet Vert aber durchaus auch Weine zu bieten, bei denen jeder Connaisseur ehrfürchtig nickt: ein 2007er Château Pétrus kostet 2950 Franken, eine 0,375-Flasche Château Yquem aus dem Jahr 2015 schlägt mit 449 Franken zu Buche. Solche Spitzenfranzosen verkaufe er durchaus, verrät Inhaber Mürner: «In der Region ist bis heute mehr Geld zu Hause, als man allgemein meint.» Meistens seien es Geschäftsleute, die sich zum Abschluss eines guten Geschäfts gemeinsam eine solche Flasche zu Gemüte führen. Eine doch sehr schöne Angewohnheit, die anderswo, zum Beispiel in Zürich, leider zunehmend aus der Mode kommt.

Bevor wir uns der Patisserie des Perroquet Vert zuwenden, wollen wir noch auf eine weitere Stärke des Hauses zu sprechen kommen, nämlich die Spirituosen, die man mit Vorteil im ersten Obergeschoss des Lokals geniesst, wo Mürner seit fünf Jahren eine herrschaftliche Wohnung angemietet und neu ausstaffiert hat. Ihr Herzstück ist die originale Bar aus dem Hotel Sacher in Wien, die dort zwischen 1880 und 1978 ihren Dienst verrichtete und die Mürner in einer Auktion ersteigert hat. Das grosszügige Areal, ebenfalls im Art-Déco-Stil angerichtet, dient auch als Zigarrenlounge. Bis der Gegenbeweis erbracht ist, handelt es sich um die schönste Zigarrenlounge zwischen Genf und Zürich.

Hier gibt es, wie könnte es anders sein, Cognacs der obersten Güteklasse, wie beispielsweise den Louis XIII und den Delamain in der imposanten Jéroboam-Flasche mit hauseigener Perroquet-Vert-Widmung. Das Servieren des Cognacs wird zelebriert wie in alten Zeiten: Der Schwenker wird zuerst mit einem minderwertigen Cognac ausgebrannt. «Das nimmt dem danach servierten Eau de Vie die Schärfe», erklärt der Gastgeber.

Ein weiterer Glanzpunkt des Spirituosen-Offerings ist die eindrückliche Kollektion von Chartreuse-Kräuterlikören, bis heute hergestellt im gleichnamigen Kloster in der Nähe von Grenoble. Eine Errungenschaft, auf die Mürner sichtlich stolz ist. «Kürzlich konnte ich sogar eine weitere kleine Privatsammlung erwerben.»

Wir schreiten zum Dessert: Wie es nicht anders zu erwarten stand, wird auch hier nicht mit Kalorien gespart. Tarte Tatin, Paris-Brest (ein mit Nougat-Crème gefülltes Brandteig-Gebäck), Mille-feuille, Bûchette ... Die süssen Versuchungen verfehlen ihre Wirkung nicht. Obwohl wir bis an die Grenze der Belastbarkeit gesättigt sind und leider nur ein wehmütiger Blick den Käsewagen streifen kann, ziehen uns die Süssspeisen in ihren Bann. Hier sind Könner am Werk, die ihre Kunst ohne verschwenderische Gedanken an Kalorien verrichten. Wir ertappen uns beim Gedanken, wie es wohl wäre, hier nach einer Theatervorführung einfach mit einer Flasche Champagner und einer Tarte Tatin den Abend ausklingen zu lassen? Kaffeehaus lässt grüssen.

Mit allerletzter Willenskraft verinnerlichen wir uns doch noch das übrig gebliebene Stücklein Paris-Brest. Mit Macht überwältigt uns die sattsame Zufriedenheit, die so nur die französische Küche hervorrufen kann. Der Vorhang fällt, Applaus brandet auf.

Café Perroquet Vert
Zentralstrasse 15, 2502 Biel
032 322 25 55
perroquetvert.ch