«Das Regionalteam war so etwas wie das Herz eines Cercles.»
Einst war der Zutritt in den erlauchten Kreis des Zürcher Cercle des Chefs de Cuisine für jeden jungen Küchenchef eine grosse Sache. Er bedeutete, dass es vorwärtsging mit der Karriere und dass man ab sofort am gleichen Tisch sass mit den altgedienten Haudegen aus den Fünf-Sterne-Hotels Dolder oder Baur au Lac. Eine Ehre ist die Mitgliedschaft in dem 1935 gegründeten Verein immer noch, findet Cercle-Präsident David Lienert. Nur haben sich die Zeiten geändert. Junge Küchenchefs haben im digitalen Zeitalter 1000 Möglichkeiten, sich zu vernetzen, aber fast keine Zeit mehr, sich wöchentlich an einem Tisch zu treffen.
Dabei gibt es durchaus gute, ehrenvolle Gründe, einem Cercle beizutreten. Es sind dieselben wie vor 20 Jahren, zum Beispiel die Pflege des Netzwerks und der Kollegialität oder die Förderung des Nachwuchses. Neue Mitglieder rekrutiert der Zürcher Cercle zum Beispiel direkt bei den Abgängern höherer Ausbildungen, mittlerweile sind neben Küchenchefs auch Gastronomieköche FA zugelassen. Trotzdem habe sich der Mitgliederschwund in den letzten fünf Jahren nochmals akzentuiert, so Lienert. «Viele machen heute eine nüchterne Kosten-Nutzen-Analyse, wägen ab, ob sich die 100 Franken Jahresbeitrag lohnen oder nicht.»
Das Problem kennt auch Michael Schmuki, Vorstandsmitglied der zurzeit 236 Mitglieder starken Aargauer Kochgilde: «Es wird immer schwieriger, die Jungen zu erreichen.» Im Aargau versucht man etwa mit speziell auf Jungköche ausgerichteten Fachkursen frisches Blut in die Organisation zu bringen. Mitmachen darf jeder, der in einer Gastronomieküche tätig ist. Beim Cercle des Chefs de Cuisine St. Gallen – Ostschweiz wiederum hat man die Aufnahmekriterien über die Jahre gelockert und nimmt heute auch Betriebsinhaber auf. «Wir haben uns den neuen Gegebenheiten angepasst und uns zu einer übergreifenden Netzwerkorganisation gewandelt», so Präsident Markus Breu.
In einer nach wie vor ausgezeichneten Verfassung präsentiert sich der Cercle des Chefs de Cuisine in Bern. 2022 wird der zurzeit 400 Mitglieder zählende Verein sein 100-Jahre-Jubiläum feiern. «Neben der Nachwuchsförderung ist die Pflege der Pensionierten dem Vorstand ein besonderes Anliegen», erklärt Präsident Beat Weibel und erwähnt in diesem Zusammenhang auch die seit den Anfängen des Cercles bestehende Alters- und Sterbekasse, aus der beispielsweise Beerdigungen von verstorbenen Mitgliedern finanziert werden. Anfang 2018 beschlossen die Berner, eine neue Kochequipe ins Leben zu rufen und Wettkämpfe zu bestreiten. «Im alten System waren wir Berner während Jahren sehr erfolgreich», so Weibel. Mit dem Regionalteam wolle man den Jungen, die «mehr machen wollen», wieder die Möglichkeit dazu bieten.
Mit dem «alten System» bezieht sich Weibel auf die Zeit vor 2013, als jeweils das beste Regionalteam die Schweiz als Nationalmannschaft an den Weltmeisterschaften oder der Olympiade vertreten durfte. Viele Cercles schauen noch heute stolz auf vergangene internationale Erfolge ihrer Teams zurück. So feierten etwa die Berner 2007 in Chicago letztmals einen Weltmeistertitel. In den Achtzigerjahren war die Mannschaft des Cercles St. Gallen – Ostschweiz das Mass aller Dinge, während in den Neunzigerjahren die Aargauer Kochgilde unter dem legendären Franz Jonke 1995 Weltmeister in Chicago und ein Jahr später in Berlin Olympiasieger wurde.
Seit fünf Jahren rekrutiert der Kochverband die Mitglieder der Nationalmannschaft selbst und aus allen Landesteilen (wobei die meisten aus der Deutschschweiz stammen). Die Regionalteams als Ganzes spielen im Auswahlverfahren keine Rolle mehr. Gerade wegen der prekären Situation bei den Regionalmannschaften sei man zu diesem Schritt gezwungen gewesen, sagt Kochverbandspräsident Thomas Nussbaumer. «Es gab zu wenig Mannschaften, und es bestand die Gefahr, dass sich dies in den Nationalteams spiegelt.» Damals übernahm der Kochverband das Management der Sponsoren, organisierte die Entschädigung der Teammitglieder (sie entspricht einem 20-Prozent-Pensum) und engagierte Teammanager Tobia Ciarulli. Seine Aufgabe ist es unter anderem, einen konstanten Wissenstransfer innerhalb der Mannschaften zu gewährleisten.
Der Entscheid, die National- sowie die Junioren-Nationalmannschaft derart zu professionalisieren, stiess nicht bei allen Cercles auf Begeisterung. «Es gab böses Blut», erinnert sich Daniel Gehriger, der die Schweiz als Mitglied der Walliser Rhoneköche einst an der Weltmeisterschaft vertrat. «Das Regionalteam war so etwas wie das Herz eines Cercles», sagt David Lienert. Auch die Zürcher waren bis 2013 mit einer eigenen Mannschaft am Start. Seither habe die Zahl der Regionalmannschaften stark abgenommen, so Lienert. «Der Aufwand für ein fünfköpfiges Team war enorm.» Ohne die Aussicht, dereinst das Nationalteam bilden zu können, sei es schwierig, motivierte Leute dafür zu finden. «Wenn wir heute bei uns einen talentierten Koch entdecken, fördern wir ihn, wenn er denn will, in Einzelwettbewerben.»
Neben den Bernern unterhält in der Deutschschweiz nur noch der Cercle des Chefs de Cuisine Lucerne ein Regionalteam. «Wir treten an allen internationalen Wettbewerben an, zum Beispiel im November an der WM in Luxemburg», sagt Cercle-Präsident Rolf Sommer. Eine Mannschaft ist «wie ein kleines Unternehmen» und kostet pro Jahr schnell mal über 50 000 Franken. Das können sich nur Cercles leisten, denen es personell und finanziell gut geht. In Luzern ist das laut Sommer der Fall. «Unter den Aktiven hat es viele Küchenchefs mit Entscheidungskompetenz.» Das erleichtere zum Beispiel die Organisation von Besichtigungen bei Zulieferbetrieben. Vor allem aber zieht es auch neue Mitglieder in den vielleicht etwas aus der Zeit gefallenen, aber durchaus sinnvollen Kreis.