19.03.2018 Salz & Pfeffer 2/2018

In aller Munde

Text: Virginia Nolan – Fotos: Tina Sturzenegger
Wir kennen das japanische Wort für «köstlich»: Umami. So heisst auch der sogenannte fünfte Geschmack. Auf der Zunge bewirkt er eine Sensation, in der Food-Welt einen Hype. Umami liegt im Trend – dem es allerdings an Wissen mangelt.
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«Wir mögen den Geschmack von Glutamat, weil es in unserem Körper wichtige Aufgaben erfüllt.»

Poké-Bowls, Nose to tail, Bio-Hacking – in der Food-Welt jagt ein Trend den nächsten. Und wer sie alle mitverfolgt, der weiss, dass der letzte Schrei aus Japan kommt: Umami. Laura Santtini, Star unter den Food-Bloggern, widmete der Geschmacksrichtung ein Kochbuch, René Redzepi, Küchenchef im Kopenhagener Noma, servierte unter dem gleichen Motto vergorene Grashüpfer. Und in den USA hebt sich die Fastfood-Kette Umami-Burger von Wettbewerbern ab, indem sie Tomatenscheiben in Sojasauce röstet, bevor sie aufs Fleischpad kommen. Auch in der Schweiz springen Köche auf den Zug auf. Die Subtilen komponieren Gerichte so, dass ihre Ingredienzen sie – hoffentlich – als Umami-Bomben entlarven, die Offensiven setzen das Schlagwort gleich auf die Menükarte.

Glutamat, die Formel für Köstlichkeit
Umami ist in aller Munde, und das nicht nur im übertragenen Sinne. Es bezeichnet unsere fünfte Geschmacksdimension, die der japanische Chemiker Kikunae Ikeda 1907 entdeckte. Es gebe, hielt der Wissenschafter fest, einen Geschmack, der Spargel, Tomate, Käse und Fleisch gemein sei, sich aber grundlegend von allen bisher bekannten Geschmacksrichtungen unterscheide. Er sei etwa in Dashi zu finden, einer Brühe aus Braunalgen und getrocknetem Fisch. So schmecke diese weder süss noch sauer, nicht salzig und nicht bitter, sondern «umami», was auf Deutsch so viel wie köstlich bedeutet. Ikeda fand keine spezifischere Bezeichnung für das, was wir im Gaumen auch als «vollmundig», «herzhaft» oder «fleischig» wahrnehmen, wohl aber den Auslöser für diesen Sinneseindruck. 1908 gelang es dem Chemiker, aus der Kombu-Alge Glutaminsäure zu isolieren. Deren Salz, das Glutamat, identifizierte Ikeda als Träger des unverkennbaren Umami-Geschmacks. Fast ein Jahrhundert verging, bis US-Forscher im Jahr 2000 die dazugehörigen Rezeptoren auf der menschlichen Zunge entdeckten.

Der Geschmackssinn steuert und kontrolliert die Ernährung des Menschen, weiss Thomas Vilgis. Der Physiker am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz schlägt als Forscher und Kochbuchautor die Brücke zwischen kulinarischem Genuss und wissenschaftlichen Aspekten des Kochens. «Wir mögen den Geschmack von Glutamat, weil es in unserem Körper wichtige Aufgaben erfüllt», sagt Vilgis. So sei Glutaminsäure eine von insgesamt 20 Aminosäuren im menschlichen Organismus. Aminosäuren bildeten Proteinketten, die unseren Hormonhaushalt steuerten oder den Muskel- und Knochenaufbau. Entsprechend enthalte auch die menschliche Muttermilch Glutamat – im Vergleich zu jener von anderen Säugern am meisten.

Gut Ding will Weile haben
Glutaminsäure kommt in allen proteinhaltigen Lebensmitteln vor, durch Abbauprodukte im Pflanzenstoffwechsel, aber auch in der Haut von Pilzen, Tomaten oder Kartoffeln. «Damit unser Gaumen mit dem Umami-Erlebnis belohnt wird, müssen Proteine jedoch aufgespalten und die darin eingebaute Glutaminsäure freigesetzt werden», sagt Vilgis. «Das geschieht, indem wir Lebensmittel reifen oder trocknen lassen, sie langsam kochen oder fermentieren.» Je länger solche Verarbeitungsprozesse dauern, desto mehr Proteinketten zerfallen, und umso mehr Glutaminsäure wird freigesetzt. Stundenlang geschmorte Kalbsbäckchen, ein reduzierter Fond, vierjähriger Parmesan: Sie alle verkörpern die von Ikeda aufgedeckte Formel der Köstlichkeit. «Vereinfacht gesagt», sagt Physiker Vilgis, «ist Umami nichts anderes als der herzhafte Geschmack gespaltener Proteine.»

Nicht umsonst blickt die japanische Küche auf eine lange Tradition des Fermentierens zurück. Durch das Vergären von Lebensmitteln steigt deren Glutamat-Gehalt bis auf das 25-Fache. In Japan kommt dabei stets der gleiche Schimmelpilz zum Einsatz: Der Koji-Pilz bricht die Proteinketten in Reis und Soja auf, etwa beim Brauen von Sake, Mirin oder Sojasauce, dem glutamatreichsten Lebensmittel überhaupt. Auch die Würzpaste Miso ist das Resultat der Vergärung von Sojabohnen, Reis oder Gerste durch Koji-Kulturen. In Japan hat der Pilz etwa die gleiche Bedeutung wie in unseren Breitengraden Hefe für die Brot-, Bier- und Weinproduktion oder Milchsäurebakterien für die Herstellung von Käse.

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Je mehr, desto besser?
Süsses ist Geschmackssache, Saures, Scharfes und Bitteres erst recht. Umami mag jeder. Woran liegt das? «Umami sticht nicht durch Spitzen hervor, sondern wirkt harmonisierend und gibt Tiefe», sagt Vilgis. So argumentiert auch Rolf Fliegauf, Küchenchef in den Restaurants Ecco in St. Moritz und Ascona. Fliegauf verfolgt in seiner Zwei-Sterne-Küche keine explizit japanische Linie, nutzt jedoch Ingredienzien aus dem Inselreich, um seinen Kompositionen Tiefe zu verleihen: «Statt klassischer Saucen arbeite ich gerne mit Dashi. Das gibt dem Gericht Kraft.» Fliegauf verwendet übliche Umami-Geschmacksträger vorzugsweise in säurebetonten Gerichten, reicht zum Beispiel Langostino in einer Brühe aus Combo-Algen, getrockneten Bonito-Flocken und Shiitake-Essenz, ergänzt das Ganze mit Miso und frischt es mit Zitrusfrüchten auf. Bei kräftigen, erdigen Zutaten wie einem Schmorstück, Randen oder Topinambur sei es dagegen nicht ratsam, die herzhaften Verstärker ins Spiel zu bringen: «Solche Gerichte sind an sich schon sehr kraftvoll. Da besteht die Gefahr einer Umami-Überdosis.» Wenig sinnvoll sei es zudem, den Gast mit einem allzu vollmundigen Auftakt überraschen zu wollen. «Das zerstört den Spannungsbogen», sagt Fliegauf.

Ins gleiche Horn bläst Sensoriker Patrick Zbinden. «Wer mit einer Umami-Bombe als Vorspeise lockt, hat nicht begriffen, wie ein sensorisch korrekter Menüaufbau funktioniert», sagt er. Das kulinarische Vorspiel, wie Zbinden es nennt, verlange nach frischen, subtilen Aromen, die den Gaumen wachkitzelten. Da dürfe die fünfte Geschmacksrichtung höchstens eine Nebenrolle spielen: in Form eines hauchdünn geschnittenen Stücks luftgetrockneter Schinken oder von Baumnüssen im Salat etwa. «Umami gehört zu 90 Prozent in den Hauptgang. Alles andere ist Effekthascherei.» Zu dieser verleite der Hype ums Thema nämlich durchaus.

Das Gute liegt nah
«Ich muss manchmal schmunzeln, was unter dem Deckmantel Umami auf den Tisch kommt», sagt André Jaeger. Der Schaffhauser Koch gilt in der Schweiz als Vordenker der ost-westlichen Fusionsküche. Dass der Berufsnachwuchs Umami zuweilen beliebig auslegt, nimmt der Altmeister ihm nicht übel. «Die sozialen Medien machen Wissen in Windeseile und für jeden verfügbar», sagt er, «da ist es klar, dass die jungen Leute etwas daraus machen wollen.» Nichtsdestotrotz fordere diese Art der Informationsaufnahme ihren Tribut – auch in seinem Berufsstand. «Es mangelt zuweilen an der Geduld, sich mit einer Sache auseinanderzusetzen», sagt Jaeger, «und dadurch an einem tieferen Verständnis dafür.» So sei Umami mehr als ein Sinnesempfinden: «Es beschreibt die perfekte Harmonie von Geschmäckern.» Die übrigens auch mit heimischen Zutaten herzustellen sei, wie Jaeger betont: Sauerteigbrot mit Butter, eine knusprig gebratene Rösti mit etwas Schweinefett als Zugabe – Umami setze weder japanische noch besonders komplizierte Ingredienzien voraus. «Ein gutes Beispiel dafür ist die italienische Küche in ihrer Einfachheit und unvergleichbaren Güte», sagt Jaeger. Linguine mit Knoblauch und Öl, Spaghetti alla Puttanesca mit Kapern, Sardellen und Tomaten, das sind laut Jaeger Umami-Bomben schlechthin.

Manchmal brauche es eine kleine Geheimzutat, um den Gaumen mit ebendieser Sensation zu belohnen, sagt Sensoriker Zbinden: «In meiner Küche ist das Pilzpulver.» Dafür mahle er Trockenpilze im Cutter und aromatisiere damit Saucen, Fonds, Pilz-, Fleisch- und Gemüsegerichte, aber auch Gratin, Butter oder Pastateig. In getrockneter und pulverisierter Form seien auch Blauschimmelkäse und Sauerkraut hervorragende Umami-Geschmacksträger. Pures Glück stellt sich ein, wenn sich dann noch ein guter Tropfen dazugesellt. Bei dessen Wahl, sagt der Sensoriker, müsse der Gastgeber bedenken, dass glutamatreiche Speisen die Tannine im Wein verstärken, was zu einem pelzigen Mundgefühl führen könne. Um Gerb- und Bitterstoffe im Wein abzuschwächen, hat Zbinden einen einfachen Tipp: «Fügt man der Speise etwas Salz zu, stellt dieses die Balance wieder her und drängt die adstringierende Wirkung zurück.»

Verpönte Geheimwaffe
Glutaminsäure kommt nicht nur in natürlichen Lebensmitteln vor, es gibt sie auch aus der Dose. Gewonnen wird das weisse Pulver mithilfe des Bakteriums Corynebacterium glutamicum, das bei der Vergärung von Zucker, Melasse oder Stärke Glutaminsäure ausscheidet. Künstliche Glutaminsäure beziehungsweise deren Salze sind als Lebensmittelzusatzstoffe E620 bis E625 gekennzeichnet. Ihre wohlschmeckende Eigenschaft macht sich die Lebensmittelindustrie rege zunutze. In der gehobenen Küche gilt Glutamat dagegen als Sakrileg: So versagte Gault & Millau dem französischen Starkoch Claude Bourgueil vorübergehend die Wertung, nachdem dieser zugegeben hatte, das Pulver einzusetzen. «Aus wissenschaftlicher Sicht ist dieser Aufruhr seltsam», sagt Physiker Thomas Vilgis. «Für den Körper ist künstliches und synthetisches Glutamat absolut identisch.» Was allerdings nicht bedeute, dass ein Pulver denselben Geschmack erzeugen könne wie etwa stundenlanges Schmoren. «Aber manchmal hilft es beim geschmacklichen Feinschliff.» Ähnlich sieht es Koch André Jaeger. «Die Kritik am Glutamat ist übertrieben», findet er. «Warum soll es verwerflich sein, Glutamat wohldosiert einzusetzen? Das kann durchaus harmonisierend wirken, und es behauptet niemand, ein Pulver ersetze Zeit und Know-how des Kochs.»

Kopfschmerzen, Jucken, Rötungen: Für angebliche Unverträglichkeitserscheinungen in Bezug auf Glutamat, das sogenannte «China-Restaurant-Syndrom», gibt es laut Sensoriker Patrick Zbinden und Physiker Thomas Vilgis keine wissenschaftlichen Beweise. Auch der Mythos, wonach Glutamat den Geschmacksinn verderbe, halte der wissenschaftlichen Prüfung nicht stand.