20.11.2016 Salz & Pfeffer 7/2016

Iss die Schweiz

Interview: Tobias Hüberli – Fotos: Jürg Waldmeier
Kaum einer kennt das kulinarische Erbe der Schweiz besser als Paul Imhof. Seit Jahren schreibt der Journalist und Buchautor an seinem fünfteiligen Kompendium über die kantonalen Spezialitäten und deren Entstehung. Nun ist er fertig.
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«Meine Bücher erheben den Anspruch auf selektive Ausführlichkeit.»

Das Projekt «Das kulinarische Erbe der Schweiz» begann 2000 mit einem Postulat des damaligen Nationalrats Josef Zisyadis. Wie kamen Sie dazu?
Paul Imhof: Durch glückliche Umstände an der Expo 02. Ab 2004 begann die Recherche zum Erbe im Auftrag des Bundesamtes für Landwirtschaft. Ein Verein, der dafür gegründet werden musste, erarbeitete ein Konzept und betreute die Equipe von Historikern und Ethnologinnen, die das Inventar erstellte. Ich selbst bin Mitglied des Vorstands des Vereins Kulinarisches Erbe der Schweiz und war nicht direkt in die Recherche involviert. Einige meiner Artikel flossen in die Forschung ein. Die vom Bund gesprochenen Steuergelder reichten, um die rund 400 Produkte des kulinarischen Erbes zu definieren und in der Landessprache, in der sie geschrieben wurden, online zu stellen. Einzelne Produkte sind seither übersetzt worden. Für eine Enzyklopädie blieb jedoch nichts übrig. Ich wurde von der Organisation «Das Beste der Region» gefragt, ob ich eine Art Führer schreiben könne. Mit dem Echtzeit-Verlag kam die Sache ins Laufen.

Der erste Band erschien 2012, der fünfte und letzte im vergangenen Monat. Wie geht es Ihnen?
Ich spüre eine gewisse Erleichterung. Am Schluss ging mir das Projekt an die Substanz. Ich bin oft um vier Uhr morgens aufgestanden und habe bis kurz vor Mittag geschrieben. Der Verlag brachte mir einen enormen Vertrauensvorschuss entgegen, es hätte ja sein können, dass ich irgendwo in der Mitte aufgebe.

Sie schreiben zum Beispiel, dass Greyerzer nach zwei Jahren Lagerung am besten schmeckt. Worauf stützen Sie diese Aussage?
Das ist einfach meine Meinung, junger Greyerzer schmeckt mir weniger. Während die Forschungsgruppe mit klaren wissenschaftlichen Vorgaben arbeiten musste, war ich viel freier. Die Buchreihe zum kulinarischen Erbe der Schweiz ist journalistisch umgesetzt, die Bände enthalten Geschichten, aber auch meine Meinung und, wo nötig, eine vertiefte Recherche. Wenn man die Ausgaben vergleicht, sieht man, dass ich immer ausführlicher wurde. Zum Beispiel nahm ich die Molke bereits auf, obwohl deren offizielles Aufnahmeverfahren ins Erbe noch gar nicht abgeschlossen war. Meine Bücher erheben den Anspruch auf selektive Ausführlichkeit mit hoher Vollständigkeit, aber nicht auf Unfehlbarkeit.

Hat die Buchreihe Ihre Sicht auf die Schweiz verändert?
Enorm, es war eine ganz andere Art, ein Land zu entdecken. Schon in Südostasien habe ich immer mehr davon gehalten, über das Essen zu schreiben, als Politiker zu zitieren. Was wir essen und trinken, charakterisiert eine Gegend, eine Landschaft viel stärker als die Politik oder nationale Grenzen, die es ja oft noch gar nicht so lange gibt. Es war etwa hochinteressant zu sehen, wie unterschiedlich früher Fleisch in den Kantonen Tessin, Graubünden, Uri oder Wallis konserviert wurde. Oder wie man Käse unterschiedlich produziert – das reflektiert die vier Sprach- und Kulturregionen der Schweiz. «Meine Bücher erheben den Anspruch auf selektive Ausführlichkeit.»

Unser kulinarisches Erbe umfasst rund 400 Produkte. Sind Sie mit der Auswahl einverstanden?
Zuerst einmal bin ich froh, dass man überhaupt ein Erbe definiert hat. Es ist ein Witz, dass wir in der Schweiz so lange damit gewartet haben. Jede Ruine ist hierzulande vermessen, jeder archäologisch bedeutungsvolle Stein gewogen worden, aber das, was einen am Leben erhält, befand man lange als so selbstverständlich, dass man es nicht aufschrieb. Aber auch das entspringt gewissermassen einer helvetischen Tradition. Unsere Küche war früher mehrheitlich schlecht dokumentiert. Die Bauernküche konnte nicht festgehalten werden, weil damals nur wenige schreiben konnten. Erst mit der bürgerlichen Küche begann man, Rezepte aufzuschreiben – aber auch nur das, was nicht selbstverständlich war.

Zum Beispiel?
Die Rezepte waren oft ungenau, in den Küchen stand Personal, das in der Lage war, auch ohne Elektrowaage richtig zu portionieren.

Zurück zur Auswahl: Wein gehört nicht zum Erbe, Fondue auch nicht. Nach welchen Kriterien wurde eigentlich entschieden?
Um ins Erbe aufgenommen zu werden, muss ein Produkt seit mindestens 40 Jahren in der Schweiz konsumiert, produziert und verkauft werden. Man hat bewusst auf Rezepte verzichtet. Fondue kommt nicht vor, aber dessen Komponenten: der Käse oder der Kirsch. Gebäck und Würste, die ja auch ein Rezept haben, sind hingegen Bestandteil. Am Ende ist es ein Kompromiss. Ich glaube, bei 400 Produkten fand man dann mal, dass es vorerst reicht. Wein generell hätte den Rahmen schlicht gesprengt. In Band drei kommt Sauser vor, in Band fünf Vin du glacier aus dem Wallis und Chèvre, ein Bauernschampus aus dem Genfer Hinterland.

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Was fasziniert Sie an unserer kulinarischen Vergangenheit?
Die Zusammenhänge. Wenn wir vom Erbe sprechen, hat man häufig das Gefühl, damit sei vor allem die Schweiz gemeint. Tatsächlich gibt es nur sehr wenige Produkte im Erbe, die ausschliesslich in der Schweiz vorkommen. Die Grenzen sind fliessend und die Migration hatte immer einen grossen Einfluss. Nehmen Sie zum Beispiel die Fitri, das sind frittierte Tortelli aus Buchweizen mit Käsefüllung, die vor 100 Jahren von Gastarbeitern aus dem Veltlin in die Leventina gebracht wurden. Auch die Bündner Nusstorte ist keine rein helvetische Kreation. Im französischen Périgord finden sich auch Elemente einer Nusstorte, und man weiss, dass Bündner Zuckerbäcker auf ihren Wanderungen auch dort Station machten.

Welches ist das exklusivste Produkt unseres Landes?
Den Vin du glacier gibt es sonst nirgends, und er lässt sich sogar klar auf ein ganz bestimmtes Tal eingrenzen, das Val d’Anniviers.

Sie sind einer der profiliertesten Gastronomie-Journalisten des Landes. Wie beurteilen Sie den Zustand der helvetischen Restaurants?
Ich bin nicht unzufrieden, im Gegenteil. Generell finde ich, dass viel zu schlecht über unsere Gastronomie und Hotellerie gesprochen wird. Es ist auch eine Folge von Facebook und Tripadvisor, dass jeder meint, er sei dazu berufen, seine Meinung zu sagen. Wenn ich sehe, wie Gault & Millau und Michelin in den Nachbarländern bewerten, sind unsere Restaurants zu schlecht, sprich zu hart bewertet.

In Ihrem letzten Buch orten Sie das kulinarische Herz der Schweiz im Waadtland. Wieso?
Weil es so ist. Die ursprüngliche Initiative zum kulinarischen Erbe stammte nicht zufälligerweise von einem Lausanner Nationalrat. Ich finde es zum Beispiel lachhaft, wenn Tourismuspersonal herausposaunt, man strebe an, irgendwann zu den zehn kulinarisch wichtigsten Orten der Welt zu gehören. Sowas kann man nicht beschliessen. Ein solches Prädikat kann man nicht mit ein paar Sterne-Köchen einkaufen, es ist Resultat einer langen Entwicklung zu einem gewissen Selbstverständnis.

Das uns die Welschen voraushaben?
In der Romandie ist das Bewusstsein für das Essen in der Bevölkerung stärker verankert, und zwar durchgehend. Ich kenne neben dem Restaurant de l’Hôtel de Ville in Crissier kein anderes Schweizer Lokal, in dem jemals vier Küchenchefs hintereinander mit drei Sternen ausgezeichnet wurden. Und ich vergesse nie, wie sich die Wirtin eines Dorfrestaurants in Bursins weigerte, mir zu ihren Malakoff einen Rot- statt einen Weisswein zu servieren.

Wie geht es weiter mit unserem kulinarischen Erbe?
Es wird weiter wachsen. Von den vielen neuen Käsesorten, die in den letzten Jahren entstanden sind, wird sich vielleicht die eine oder andere Kreation 40 Jahre halten können. Auch der Hamburger müsste eigentlich aufgenommen werden, zusammen mit der Frikadelle. Das erste Restaurant von McDonald’s öffnete 1976 in Genf seine Tore. Es wäre also Zeit. Ich könnte mir das gut vorstellen.

Paul Imhof (64) absolvierte die Ringier-Journalistenschule und landete danach «ziemlich bald» als freier Mitarbeiter bei der Basler Zeitung. Von 1988 bis 1994 arbeitete er für die BaZ als Südostasien-Korrespondent in Singapur. Zurück in der Schweiz schrieb er für die Sonntagszeitung als Reporter für Reisen, Essen und Trinken. Ab 2000 und bis zu seiner Frühpension vor drei Jahren gehörte er zum Ressort «Savoir-vivre» beziehungsweise «Leben» des Tages-Anzeigers. Zusammen mit dem Fotografen Andri Pol bildete Imhof zudem während zehn Jahren die Redaktion des «Schauplatzes Schweiz» des Magazins Geo. Bei dem durch Bund und Kantone subventionierten Projekt «Das kulinarische Erbe der Schweiz» war Imhof seit den Anfängen involviert. Nachdem die Forschungen zum kulinarischen Erbe des Landes 2009 abgeschlossen waren, begann Imhof das rund 400 Produkte umfassende Erbe in einer fünfteiligen Buchreihe journalistisch umzusetzen. Der erste Band erschien 2012 im Echtzeit-Verlag und behandelte 82 Produkte aus den Kantonen Aargau, Luzern, Ob- und Nidwalden, Schwyz, Zug und Zürich, mit «Tableaux culinaires» von Hans-Jörg Walter, Markus Roost und Roland Hausheer sowie ausgesuchten Rezepten von Marianne Kaltenbach. Der fünfte und letzte Band (Freiburg, Genf, Neuenburg, Wallis und Waadt) erschien diesen Oktober.
www.echtzeit.ch