19.11.2024

Kein Ende in Sicht

Interview: Sarah Kohler – Fotos: Tina Sturzenegger
Im Zwei-Sterne-Restaurant Focus Atelier am Vierwaldstättersee soll alles zusammenpassen: Küchenchef Patrick Mahler sucht die Harmonie – auf dem Teller ebenso wie drumherum.
Patrickmahler 082

Ihre Signature-Kreation – das Rindertatar – machen Sie seit sechs Jahren. Wie ist sie entstanden?
Patrick Mahler: Wir haben einen Stammgast, der Gerichte mit Entenleber liebt. Also dachten wir uns für ihn immer wieder andere Variationen aus – und das war eine davon: ein mariniertes Rindertatar mit einer leicht geräucherten Randenmarinade, klassisch abgeschmeckt, dazu dehydrierte und rehydrierte Randenwürfel, ein dünner Gelee aus frischem Randensaft, knusprige Reisperlen und als Clou das kühle Entenleberglace. Der Stammgast schwärmte so vom Gericht, dass wir es auf die Karte nahmen, und inzwischen steht es fix drauf. Es passt gut zu uns – nicht nur deshalb, weil die Rande farblich mit den lila Akzenten im Restaurant harmoniert.

Wobei das Setting, das ganze Drumherum, für das Gästeerlebnis ja entscheidend sei, sagen Sie.
Richtig. Was auf dem Teller liegt, was wir kochen, ist nur ein Teil: Das ist mir und dem gesamten Team, inklusive Service, wichtig. Wir machen uns Gedanken: Was passiert am und auf dem Tisch? Welche Materialien verwenden wir? Welche Formen? Wir haben uns für jedes Holz, jedes Stück Porzellan, jedes Glas bewusst entschieden.

Worauf achten Sie konkret?
Ich möchte auf keinen Fall eine Geschirr-Konfettishow! Das Set-up soll für eine gewisse Ruhe sorgen, eine organische Zusammenstellung sein: dezent und stimmig. Cooles Geschirr gibt es überall, aber die richtige Kombination zu finden, ist gar nicht so einfach. Bei jedem Stück schauen wir, wie es sich einfügt, wie es zum Rest passt – und so ergibt sich ein Konstrukt an Möglichkeiten, aber eben auch eine Linie. Und die muss man sich erst einmal erarbeiten.

Sie sind seit 2013 im Park Hotel Vitznau tätig, haben verschiedene Stationen durchlaufen. Woran denken Sie, wenn Sie die Zeit Revue passieren lassen?
Ich bin unfassbar stolz und glücklich. Es gab in all den Jahren keinen Stillstand. Auch heute noch geht es immer weiter, und das ist etwas vom Schönsten – wenn nicht das Schönste überhaupt – an unserem Beruf: Ich entdecke stetig Neues, werde inspiriert, bekomme Impulse, treffe Menschen. All das bringt mich persönlich voran, und so kommen Gedanken auf, die vor wenigen Jahren vielleicht noch keine Rolle spielten. Das kann eine Kochtechnik sein, ein Produkt oder eben ein Geschirrteil, das ich plötzlich überdenke. Und so tasten wir uns immer näher ans Gesamtbild heran, in dem jedes Detail stimmt.

Das klingt aber auch so, als würde es nie fertig.
Das ist so. Und ich finde es toll und herausfordernd zugleich. Da ist kein Ende in Sicht, nichts ist je perfekt. Selbst der beste Koch, die beste Köchin auf dem Planeten muss jeden Tag aufs Neue ran an den Herd und alles geben.

Gerade Sie sind für Ihre Konstanz auf hohem Niveau bekannt, halten seit 2019 zwei Sterne und 18 Punkte. Steckt da wirklich noch so viel Bewegung drin?
Unbedingt. Ich bin glücklich, dass wir schon so lange auf einem so hohen Level kochen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass wir uns darauf ausruhen könnten oder sollten. Ich will weiterkommen und bin immer auf der Suche nach ... nennen wir es: Glückseligkeit. Nicht für mich, sondern für alle, insbesondere die Gäste. Und dafür muss eben alles perfekt ineinandergreifen.

An welcher Stelle kommt in diesem Zusammenspiel das Essen?
Das ist eine schwierige Frage. Es gibt sicher Köchinnen und Köche, die der Meinung sind, dass nur das Resultat auf dem Teller zählt – ungeachtet davon, ob in der Küche dafür drei Leute weinend in der Ecke stehen und im Service alle sauer sind. Sprich: Eigentlich stimmt gar nichts, aber das Gericht muss genau so sein. Ich sehe das anders: Wir bringen im Focus nur dann die beste Leistung auf den Teller, wenn wir uns alle wohlfühlen. Mit Wut lässt sich ohnehin nicht erzwingen, dass jemand besser kocht. Vielmehr geht es darum, dass die Köchinnen und Köche selber ein Gespür für die Gerichte entwickeln. Davon profitiere am Ende auch ich als Chef.

Und wie erreichen Sie das?
Ich übertrage meinen Leuten von Anfang an viel Eigenverantwortung und vertraue ihnen. Natürlich probiere und kontrolliere ich den ganzen Tag – aber wohlwollend. Ziel ist es, dass meine Mitarbeitenden das, was wir uns für ein Gericht überlegt haben, möglichst gut umsetzen wollen. Das Team soll ohne mich genau gleich arbeiten und abschmecken – sodass nicht auffallen würde, wenn ich nicht da wäre. 

Patrickmahler 048
Hiramasa Kingfish – Apfel-Gurke, Tomate-Aqua-de-Chile, Schwarze Limette
Hiramasa Kingfish – Apfel-Gurke, Tomate-Aqua-de-Chile, Schwarze Limette
Chawanmushi – Schneekrabbe, Schwarzer Trüffel, Krustentierdashi
Chawanmushi – Schneekrabbe, Schwarzer Trüffel, Krustentierdashi
Patrickmahler 054
Patrickmahler 051
Patrickmahler 087
Patrickmahler 050

Es braucht Sie gar nicht?
Ich bin zumindest nicht der Chef, der seiner Brigade niedergeschriebene Rezepte in die Hand drückt, die eins zu eins umgesetzt werden sollen. Wir erschaffen gemeinsam etwas Neues. Alle im Team sind Teil dieses Prozesses, und das Ausprobieren auf dem Weg zum Resultat sorgt für Erfahrungswerte. Nur so entwickeln die Mitarbeitenden ein echtes Verständnis für die Küche im Focus – und genau das möchte ich. Es ist ja immer auch spannend, wenn sie weiterziehen und vielleicht selbst mal Chef oder Chefin werden. Sie haben dann etwas in ihren Rucksack gepackt, das sie auf ihrem weiteren Weg wirklich weiterbringt.

Wie wählen Sie Ihre Mitarbeitenden aus?
Es gibt für mich zwei wichtige Kriterien: die Motivation respektive die Passion für den Beruf. Und der Charakter. Die Leute müssen etwas ausstrahlen. Klar, eine gewisse handwerkliche Basis ist Voraussetzung, aber im Prinzip kann man alles Koch- und Arbeitstechnische lernen – im Gegensatz zur Persönlichkeit.

Die sollten Ihre Köchinnen und Köche nicht zuletzt haben, weil sie regelmässig im Gastraum stehen.
Mir ist das Zusammenspiel von Küche, Service und Gästen sehr wichtig. Mein Team verbringt den ganzen Tag in der Küche: Indem sie die Gerichte selber raustragen, erhalten sie dafür auch eine gewisse Wertschätzung. Wir stellen uns am Tisch persönlich vor und sagen, wofür wir zuständig sind. Diese Nähe ändert alles – auch für die Gäste.

Schmeckt das Essen besser?
Ich würde sagen: ja! Wobei es nicht wirklich darum geht, sondern darum, dass ein Gericht einen anderen Hintergrund bekommt. Wenn man es mit einem Gesicht identifizieren, mit einer Geschichte verbinden kann, macht das einen so grossen Unterschied. Sonst könnten wir die Gäste ja einfach an ein Buffet schicken. Unbetreut, zum Selberschöpfen.

Ist es im Kochberuf heute denn eine Bedingung, dass man gern direkt mit den Gästen kommuniziert?
Eine Bedingung nicht, aber es hilft sicher. Ich glaube allerdings, dass die junge Generation so aufgeschlossen ist, dass das kaum mehr ein Thema ist. Wenn ich mir vorstelle, dass ich vor 20 Jahren irgendwo rausgemusst hätte, um ein Gericht zu erklären ...  

Hätten Sie Mühe damit gehabt?
Ich glaube schon. Die Zeiten waren eh anders, da ging allenfalls der Chef raus, aber sicher nicht die Köchinnen und Köche. Und im Leben wäre niemand auf die Idee gekommen, eine Sauce vor den Gästen anzugiessen ... Aber ich hätte mit 20 auch gar nicht in einem Zwei-Sterne-Lokal angeheuert. Das Selbstvertrauen kam erst mit der Zeit; als ich merkte, ich kann was.

Wann stellten Sie das fest?
Vermutlich in der Anfangsphase im Prisma. Ich war zum ersten Mal Küchenchef, schrieb eine eigene Karte, führte ein Team, fällte individuelle Entscheidungen. Ich zeigte zu 100 Prozent das, was ich mir überlegt hatte – und erhielt dafür jede Menge positives Gästefeedback. Das machte mir bewusst, dass man darauf aufbauen kann.

Und das bemerkten auch die Verantwortlichen im Park Hotel Vitznau.
Zum Glück, ja. Das Unternehmen HVLL AG, zu dem das Park Hotel Vitznau gehört, und die Stifterfamilie Pühringer spielen eine entscheidende Rolle und ermöglichen es meinem Team und mir, auf diesem Niveau zu kochen. Und ein paar Restaurantguides realisierten das ebenso. Das war eine tolle Bestätigung.

Wenn Sie heute an Ihre erste Karte zurückdenken: Verwerfen Sie da die Hände?
Gar nicht. Es war einfach eine andere Zeit, eine andere Phase. Ich kochte aufwendiger: mit mehr Chichi, mehr Handgriffen. Ich musste schliesslich zeigen, was ich kann: möglichst viele verschiedene Farben, da ein Punkt und hier noch einer, da etwas Knuspriges, hier ein Schaum. Und dazu ein Glace.

Heute sind Sie gelassener unterwegs?
Das würde ich schon sagen. Reduzierter. Die Philosophie von damals ist aber immer geblieben: Ich wollte nie den Grundgeschmack eines Produkts verändern. Und manchmal sind meine Gerichte bis heute sehr einfach gekocht – frech einfach. Ich sag es bloss niemandem.

Woher kommt die Inspiration für Ihre Gerichte?
Sie ist allgegenwärtig. Ich bin bei der Kreation meiner Gerichte aber wenig strukturiert, kann das Menüschreiben nicht planen. Manchmal ist dafür der falsche Augenblick, in anderen Momenten ist innert zehn Minuten alles klar. Die Ideen kommen spontan, beim Sport, beim Autofahren, mitten in der Nacht. Natürlich sind die Saison und die Natur – neben dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen oder Instagram – wichtige Inspirationsquellen, aber ich kann nicht einfach einen Berg anschauen und sehe dort einen Hauptgang. Und ich blicke auch nicht auf den See hinaus und habe gleich ein Fischgericht im Kopf.

Apropos Austausch: Sie sind in der Schweizer Gastronomie gut vernetzt, laden regelmässig Kolleginnen und Kollegen ein oder geben selber Gastspiele. Warum ist Ihnen das wichtig?
Weil es Spass macht und für mich dazugehört. Es ist ein Geben und Nehmen. 2023 absolvierten mein Team und ich 43 Events ausser Haus. Dazu kamen jene im Focus. Kurz: Wir waren non-stop unterwegs. Ich finde das cool.

Sie sind offensichtlich auch ein beliebter Gast – weil Sie so ein umgänglicher Typ sind?
Ich glaube, dass wir tatsächlich ein sehr lockeres, unkompliziertes Team sind. Man kann uns eine Anfrage schicken, wir sagen zu – und auch wenn man dann vielleicht bis zwei Tage vor dem Event nichts mehr von uns hört, kann man sich darauf verlassen, dass wir am Start sind und etwas Gutes beitragen.

Und wen möchten Sie eines Tages unbedingt mal noch als Gastkoch im Focus begrüssen?
Peter Knogl. Er ist ein ganz grosser Mann! Noch brutaler auf den Punkt kochen, als er das tut, kann man nicht. Davor ziehe ich meinen Hut. Und von der Grundidee her würden unsere Gerichte durchaus zueinander passen.

Wer hat Ihre Art zu kochen denn am stärksten geprägt?
Ein wichtiger Mentor war sicher Rolf Fliegauf im Ecco: Ich war jung, unfassbar motiviert und sog alles auf, was er mir beibrachte. Das verarbeitete ich dann ein paar Jahre lang, bis ich es schliesslich auf meine eigene Art und Weise umsetzte. Heute sehe ich rundherum Stile und Charakteristiken, die ich wahnsinnig mag. Ich glaube, ich nehme überall einzelne Akzente raus, die zu mir passen, schmeisse die alle in einen Pool – und daraus heraus entsteht dann etwas Neues, etwas Eigenes.

Eine Frage noch: Haben Sie fürs Focus eine Vision für die Zukunft?
Selbstverständlich habe ich die. Ob ich für immer hier bleibe? Wer weiss ... Im Moment bin ich happy – und ich habe so ein Gefühl in mir drin: Ich bin hier noch nicht fertig.

Konstante Leistung

Nach der Kochlehre im Kantonsspital Aarau absolvierte Patrick Mahler (42) verschiedene Stationen in der Schweizer Gastronomie, heuerte unter anderem im Hotel Saratz in Pontresina und im Restaurant Lampart’s in Hägendorf an. 2010 stiess er zur Brigade von Rolf Fliegauf und stand in dessen Ecco-Lokalen in Ascona und St. Moritz als Souschef am Herd. 2013 wechselte Mahler ins Park Hotel Vitznau: Hier startete er als Executive Souschef, fungierte von 2015 bis 2017 als Küchenchef des Restaurants Prisma und übernahm 2018 schliesslich seine aktuelle Funktion als Küchenchef des Focus Atelier. Seit 2019 hält Mahler zwei Sterne und 18 Punkte.

Focus Atelier
Parkhotel Vitznau, Seestrasse 18, 6354 Vitznau 041 399 60 60, parkhotel-vitznau.ch