«Manche Kinder kennen sich mit dem Käsewagen besser als aus unsere Mitarbeiter.»
Sollen Kinder ihre Eltern zum Dinner beim Spitzenkoch begleiten? An der Frage scheiden sich die Geister. Nicht nur unter den (Zaun-)Gästen, die dem Erlebnis als Tischnachbarn beiwohnen, auch Köche selbst sehen die Sache unterschiedlich. Grant Achatz etwa, Küchenchef des mit drei Sternen dotierten Restaurants Alinea in Chicago, sorgte für Furore, als er seinem Unmut über lärmende Kleinkinder per Twitter Luft machte: «Wir haben hier ein achtmonatiges Kind am Tisch. Es schreit. Macht das ganze Restaurant verrückt. Nehmt ihr Kleinkinder auch mit ins Theater und auf Konzerte? Gehören sie dahin? Ich hasse es zu sagen, aber: nein.» Auf den Tweet folgte ein Shitstorm, aber auch Zuspruch; der Vorfall wurde gar zum Thema in der Morgenshow auf ABC, in der Achatz zu seiner Verteidigung sagte, er habe das Geschrei aus dem Restaurant sogar in der Küche gehört. Andere Spitzenköche greifen solchen Zwischenfällen vor, indem sie Kinder gar nicht erst hereinlassen. In den meisten Gourmettempeln Dubais etwa hat der Nachwuchs zur Dinner-Zeit Sperrstunde, selbst wenn er im Hotel wohnt, dem das Restaurant angehört. Auch in Europa verbannen manche Sterne-Köche Kinder hochoffiziell aus ihren heiligen Hallen. So handhabten es etwa Albert Adrià vom mittlerweile geschlossenen Enigma in Barcelona oder Nathan Outlaw mit seinen Fischrestaurants in Cornwall. Mit monetären Anreizen statt einer No-Kids-Policy versucht es derweil Antonio Ferrari im italienischen Padua: Er gewährt Eltern, die ihre Rasselbande zu bändigen wissen, zum Ende des Abends fünf Prozent Rabatt.
Fine Dining und Kinder – «yay oder nay?», lautet dazu eine unter Restaurantgästen rege und kontrovers diskutierte Frage im Forum des Bewertungsportals Tripadvisor. Wie beantworten sie Küchenchefs der gehobenen Gastronomie hierzulande? «Ein spannendes Thema», sagt dazu Mitja Birlo vom Restaurant 7132 Silver in Vals – «und ein heikles», wie der Koch des Jahres 2022 von Gault & Millau einräumt. «Wir wollen Eltern kein schönes Erlebnis verbauen, indem wir sagen, ihr dürft eure Kinder nicht mitnehmen», sagt Birlo. «Aber wir möchten auch nicht, dass andere Gäste ihres besonderen Abends beraubt werden, weil Kinder ständig Lärm machen. Bei uns lässt man doch den einen oder anderen Franken mehr liegen, da will man dem Gast etwas zurückgeben – auch in Form einer entsprechenden Ambiance.» Sein Team habe schon oft darüber diskutiert, wie diese Gratwanderung zum Wohle aller zu bewältigen sei. «Es bleibt eine Herausforderung», sagt Birlo. «Letztlich setzen wir auf die Eigenverantwortung der Eltern, darauf, dass sie abschätzen können, worauf sie sich mit einem drei- bis vierstündigen Dinner als Familie einlassen. Und wenn die Eltern glauben, das sei mit ihren Kindern realistisch, glauben wir ihnen auch.» Meist fahre sein Team mit dieser Devise gut, sagt Birlo. «Und wenn alle Stricke reissen, siedeln wir die Familie nach Möglichkeit an den Chef’s Table in die Küche um. Dort darf es auch mal etwas turbulenter zugehen, ohne dass sich andere Gäste gestört fühlen.» Im Hinblick auf ihre kulinarischen Vorlieben erlebe er Kinder ganz unterschiedlich, sagt Birlo: «Da gibt es solche, die verputzen einen Siebengänger und andere, die lieber Spaghetti Bolognese, Cheeseburger oder Gehacktes mit Hörnli essen.» Für solche Klassiker greife man auf die Kinderkarte des ebenfalls im 7132 Hotel beheimateten Restaurants Red zurück.
Eine Kinderkarte gibt es bei Heiko Nieder im The Restaurant keine. Stattdessen fragt der Küchenchef im Zürcher Fünf-Sterne-Hotel Dolder Kinder, worauf sie Lust haben. «Dann schauen wir, was wir dahaben», sagt Nieder. «Bis jetzt konnten wir alle kleinen Gäste glücklich machen. Und wenn die Kinder glücklich sind, sind es alle – was es mit dieser Binsenweisheit auf sich hat, weiss ich auch erst, seitdem ich als Vater mit meinen Kindern im Restaurant unterwegs bin.» Er habe den Nachwuchs vieler Stammgäste aufwachsen sehen, sagt Nieder. «Da ist beispielsweise die junge Dame, die als Baby jeweils neben dem Tisch schlummerte, und heute noch dasselbe bestellt wie als Kind: Schnitzel von Heiko. Das ist toll.» Und wie lässt sich das Wunschkonzert mit der Betriebsamkeit in der Küche vereinbaren? «So ausgefallen sind Kindervorlieben dann auch wieder nicht», sagt Nieder lachend. «Wobei – manche Kinder kennen sich mit dem Käsewagen besser als unsere Mitarbeiter.» Er habe als Küchenchef auch noch nie ein Machtwort sprechen müssen, weil Kinder störten: «Wenn ein Baby weint, zieht sich in der Regel ein Elternteil mit dem Kind zurück, bis es sich beruhigt hat. Langweilen sich grössere Kinder, hat man heutzutage das Glück, aufs Tablet zurückgreifen zu können.» Kinder seien im Restaurant kein Störfaktor, so Nieder, er lege Eltern sogar ans Herz, mit ihnen essen zu gehen. «Tischregeln rechtfertigen Eltern zu Hause ja gerne damit, dass sie Kinder befähigen sollen, im Restaurant eine gute Falle zu machen», sagt der Küchenchef. «Dann muss man ihnen auch die Möglichkeit geben, sich in dieser Erfahrung zu üben.»
Ähnlich sieht es Christoph Hunziker, Küchenchef vom Schüpbärg Beizli und aktueller Europa-Finalist für den Bocuse d’Or 2022: «Wenn Eltern Kinder an ihren kulinarischen Interessen teilhaben lassen und sie auch ins Gespräch einbeziehen, gibt es keine Probleme. Man merkt, dass diese Kinder es gewohnt sind, auch mal zwei Stunden am Tisch zu sitzen.» Es komme äusserst selten vor, dass er Eltern an ihre Aufsichtspflicht erinnern müsse, weil Kinder andere Gäste störten, sagt Hunziker: «Das ist für mich sehr unangenehm. Dann heisst es oft vorschnell, man sei kinderfeindlich, und das stimmt wirklich nicht. Kinder sind bei uns herzlich willkommen.» Kinder, die häufig bei Hunziker zu Gast sind, bestellen dem Küchenchef zufolge meist aus der regulären Karte, einfach die kleinere Portion. Hunziker führt auch eine Kinderkarte, die er allerdings habe redimensionieren müssen, weil es, wie er sagt, oft auf die gleichen Geschichten hinauslaufe: «Chicken Nuggets, Pommes und Co. sind halt Dauerbrenner. Ich mache zwar keine Pommes frites, aber als Alternativen Gaufrettes aus frischen Kartoffeln, auch die Nuggets sind natürlich hausgemacht – aber am Ende gewinnt Frittiertes, man kann es nicht schönreden. Auswärts essen viele Kinder eben am liebsten, was es zu Hause nicht so oft gibt.»
Bei Sterne-Koch Roger Kalberer im Schlüssel Mels sind Klassiker wie Gehacktes mit Hörnli und Rahmschnitzel die Kassenschlager auf der Kinderkarte. Die sei vor allem im Bistro im Einsatz, das auf rustikale Küche setze. «Kinder, die ihre Eltern ins Gourmetrestaurant begleiten, bestellen meist von der regulären Karte. Und wenn sie etwas anderes möchten, schauen wir was möglich ist», sagt Kalberer. Er selbst gehe mit seiner zweijährigen Tochter auch auswärts essen, so der Küchenchef: «Ich frage bei der Reservation jeweils nach, ob es in Ordnung ist, wenn wir mit Kleinkind kommen. Für mich als Vater ist es selbstverständlich, dass ich mit dem Kind kurz rausgehe, wenn es länger weint oder quengelt. Bei meinen Gästen erlebe ich das in der Regel auch so.» Im Gourmetrestaurant habe er oft die Kleinsten zu Gast, sagt Kalberer, «die, noch viel verschlafen». Die, die der Hunger weckte, hat Kalberer auch schon mit hausgemachtem Breivariationen erfreut: «Als meine Tochter im Breialter war, kochte ich für Gästekinder einfach mit. Das kam sehr gut an.»
Unsere südlichen Nachbarn gelten als kinderfreundlichste Nation Europas. Wie handhaben es gehobene italienische Restaurants hierzulande mit kleinen Gästen? «Ein Kinderverbot ist mit Italianità nicht vereinbar», sagt Antonio Colaianni, der bekannteste italienische Koch der Schweiz und Geschäftsführer im Zürcher Ristorante Ornellaia. «Ich finde, man muss diesen Ansatz aber auch nicht verteufeln. Es ist in Ordnung, wenn sich Gastronomen im Spitzensegment, die vielleicht auch bewusst auf eine puristische, reduzierte Ambiance setzen, nicht als Familienbetriebe positionieren wollen und das auch so kommunizieren.»