04.04.2024 Salz & Pfeffer 2/2024

Kochbücher der komplexen Art

Interview: Hans Georg Hildebrandt – Fotos: Katie Wilson, z. V. g.
Mit ihrem Buch «Geschmacksthesaurus» landete die britische Autorin Niki Segnit 2014 einen weltweiten Überraschungshit. Zehn Jahre später legt sie nach – mit einer Fortsetzung für die pflanzenbasierte Küche.
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«Am Zahltag gabs vielleicht mal Pizza.» 

«Thesaurus» ist für uns Deutschsprachige ein seltsames Wort, aber im Lateinischen bedeutet es einfach «Schatz». Im Englischen werden Wörterbücher so genannt. Und mit dem ersten Band ihres «Geschmacksthesaurus» kreierte die britische Autorin Niki Segnit 2014 ein überraschend einfaches und doch ganz neuartiges Buch für Leute, die gern eigene Wege gehen und dafür Inspiration suchen. Es verkaufte sich über 250 000 Mal und wurde in 14 Sprachen übersetzt. 

«Der ‹Geschmacksthesaurus› ist mein Handbuch, wenn es darum geht, Aromen zu kombinieren... das einzige Werkzeug, das es mir erlaubt, einige meiner Annahmen zu überprüfen, ohne mich selbst an den Herd stellen zu müssen», schrieb Middle-East-Superstar Yotam Ottolenghi im Vorwort zu Segnits zweitem Buch «Intuitives Kochen», das sich mit verschiedenen Grundzubereitungsarten befasst und lehrt, wie man Ableitungen davon macht. 

Nun hat Segnit mit «More Flavours» einen zweiten Band ihres Kochwortschatzes vorgelegt, der sich vor allem mit Gerichten beschäftigt, die auf unverkrampfte Weise Pflanzen in den Vordergrund rücken. Wie ihre ersten beiden Werke dürfte das neue Buch ein Bestseller werden, was kaum ein Kochbuch schafft, das nicht einen TV-Koch oder eine TV-Köchin auf dem Cover hat. Wir haben uns mit der Erfolgsautorin über ihre Karriere und ihr liebstes Comfort Food unterhalten. 

Wir stören Sie um halb ein Uhr mittags – was gibt es bei Ihnen heute zum Lunch? 
Niki Segnit: Selbst gebackenes Brot und etwas Serranoschinken. 

Am Vortag unseres Gesprächs traf sich im Kopenhagener Restaurant Alchemist die Elite der Kulinarikszene – die Adriá-Brüder, Harold McGee und Alchemist-Chef Rasmus Munk – zum Kochen und zu Podiumsgesprächen. Waren Sie als internationale Bestsellerautorin auch eingeladen, wenn nicht zum Halten eines Vortrags, so wenigstens als Gast? 
Interessieren würde mich das natürlich schon. Aber mir scheint, dass die Protagonisten dieser Kulinarikszene vor allem einander einladen und nicht unbedingt an meiner Aussensicht interessiert sind. Ich finde diese Art Anlässe deshalb ein bisschen, nun ja, selbstbezüglich.

Warum genau fingen Sie eigentlich an, sich mit Essen zu beschäftigen?
Zu Beginn meiner Karriere in der Werbung wohnte ich alleine und musste mich irgendwie ernähren. Damals arbeitete ich für eine Frau, die sich sehr für das Thema Kochen und Essen interessierte. Sie zeigte mir italienische Läden und Märkte in London. Kochkurse konnte ich mir nicht leisten, ich war ja kein reiches Mädchen, das in die Skiferien geht. Also habe ich zunächst viel gelesen und dann zu kochen angefangen. Schon als Kind habe ich sehr viel gelesen, und als ich mir das Kochen beibringen wollte, war es der natürlichste Weg, das übers Lesen zu erreichen.

Gibt es etwas in Ihrem frühen Leben, das Sie geprägt hat?
Unbedingt. Meine Mutter hat immer alles von Grund auf zubereitet, und das war sehr wichtig für mich. Aber dennoch: Nachdem ich von zu Hause ausgezogen war und bevor ich kochen lernte, ernährte ich mich von Baked Potatoes. Am Zahltag gabs vielleicht mal Pizza. Als ich dann Spaghetti Aglio e Olio entdeckte, ging es mir schlagartig besser. 

Wie arbeiten Sie an Ihren Büchern? Werden Sie wie der klassische kreative Geist von Ideen bestürmt oder setzen Sie sich hin, fokussieren und vergraben sich in der Arbeit?
Ich versuche, nah an einem Thema dran zu bleiben, und überarbeite Rezepte wie Texte auf intensive Weise. Im Gegensatz zu einer TV-Köchin habe ich jedoch keine Angestellten, die für mich Gerichte zubereiten und testen. Ich komme deshalb nur sehr langsam voran und muss alles selbst zubereiten, probieren und weiter recherchieren. Zudem ist es bei meiner Art der Arbeit keine Option, Sachverhalte irgendwo nachzulesen und zu übernehmen, weil ich mich weitestgehend auf unerkundetem Gebiet befinde. Wenn ich eine Idee habe und ihre Möglichkeiten erforsche, kann das deshalb furchtbar lange dauern, denn ich schreibe ja nicht einfach eine Meinung auf. Wichtig zu wissen ist auch, dass es saisonale Gegebenheiten gibt: Manche Produkte sind auf dem Markt nur während sechs Wochen frisch zu haben, und wenn ich mit der Arbeit zu diesem Thema nicht durchkomme, muss ich bis zur nächsten Saison warten. 

War Ihnen beim Verfassen Ihres ersten Buchs schon klar, dass Sie Stars der Branche wie Yotam Ottolenghi beeindrucken würden?
Ich habe beim Schreiben vor allem an mich und an Leute wie mich gedacht. Ich versuche, mich auf eine Art weiterzubilden, die nützlich ist. Ich will meine Leserinnen und Leser mitnehmen und ihnen zeigen, wie man an unerwarteten Verbindungen zwischen unterschiedlichen Lebensmitteln Freude empfinden kann. Ein gutes Beispiel sind die roten Bohnen, die einen Geschmack wie Leber haben. Es gibt nur sehr wenige Rezepte für diese Pflanze.Wenn ich schreibe, will ich meine Leserinnen und Leser dazu bringen, diesen überraschenden Geschmack zu entdecken und seine Möglichkeiten zu erkunden. So entstand etwa ein vegetarisches Haggis mit genau diesen Bohnen – ein Gericht wie diese schottische Wurst aus Lamm-Innereien, vor der Leute in der Originalversion zurückschrecken, wird vegetarisch plötzlich zur begehrten Spezialität. Spannend!
 

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Wie interessiert sind Sie an der Küche, die mit Michelin-Sternen ausgezeichnet wird?
In England ist diese leider kaum bezahlbar, die Lebenshaltungskosten sind eben nochmals drastisch gestiegen. Ich war natürlich bei Heston Blumenthal im The Fat Duck, und das hat viel Spass gemacht. Auch sein Restaurant Dinner im Londoner Mandarin Oriental ist grossartig. Derzeit interessieren würde mich hier das The Sportsman. Was ich im neuen Buch empfehle und in London beispielhaft gut finde, ist das Jikoni: kreativ, mehrheitlich pflanzenbasiert und aufwendig, aber nicht zu astronomischen Preisen.

Künstliche Intelligenz wird auch die Kreation von Rezepten und die Gastronomie insgesamt beeinflussen. Haben Sie damit bereits Erfahrungen gesammelt?
Ja (lacht)… mein Mann hat Chat GPT einmal den Auftrag gegeben, einen Artikel im Stil meiner Bücher zu verfassen. Das kam nicht besonders gut heraus. Aber man sollte wohl niemals nie sagen. Ich sehe es so: Deine Geschichte gehört immer dir selbst, und niemand anders kann sie gleich erzählen wie du. Natürlich ist die KI fähig, Rezepte zu generieren, aber deine Seele kann von keinem Sprachmodell nachgebaut werden.

Das Internet versprach uns einst viel bessere Information. Aber wenn man gut essen gehen will, leiten einen Portale wie Tripadvisor und Google oft in die Irre und man gerät in Touristenfallen. Wie stellen Sie sich dazu?
Tatsächlich genossen mein Mann und ich in Barcelona aufgrund eines Tipps in einem gedruckten Reiseführer eines der besten Essen unseres Lebens. Es war nicht für Instagram geeignet und wurde auch sonst nirgends empfohlen. Wir haben uns vorgenommen, künftig wieder gedruckte, etwas ältere Reiseführer zu konsultieren. Das Netz taugt nicht für die Suche nach guten Restaurants.

Comfort Food: ein etwas abgenutzter Begriff. Löst er noch etwas in Ihnen aus?
Durchaus. Comfort Food ist für mich alles, was warm und weich ist und damals von meiner Mutter zubereitet wurde. Also zum Beispiel alle Arten von Pies, das sind die typisch britischen salzigen Kuchen mit einer Füllung aus Fisch, Hackfleisch oder Gemüse. Essen, für das man keine Gabel braucht. Persönlich ist Daal für mich ein Comfort Food. Die Wärme der Gewürze und der Geschmack der Linsen haben etwas Tröstliches.

Heute folgen alle ihren liebsten Köchinnen oder Köchen auf Youtube und tauschen sich über deren Vorschläge aus. Wen schauen Sie am meisten?
Keinen! Ich bin und bleibe eine Leserin – und kann das allen empfehlen.

Aber Sie sind schon auch der Ansicht, dass Kochen ein Teil der Popkultur geworden ist?
Hm, in meinen Zwanzigern war ich nur an Musik und Mode interessiert. Ich würde nicht sagen, dass sich das geändert hat und junge Leute so breit an Kulinarik interessiert sind wie an klassischen Teenage-Themen. Aber ich habe in der Tat Freunde mit jugendlichen Kindern, die gerne kochen können würden und bei mir zum Beispiel eine Crème brulée zubereiten lernen wollen. Das ist grossartig! Es gibt ja immer mehr Beweise dafür, dass Essen gut für die geistige Gesundheit ist und nicht nur für den Körper. 

In England ist Popmusik jedenfalls wichtiger als bei uns. Hören Sie weiter den Sound Ihrer Jugend oder datieren Sie Ihren Musikgeschmack auf?
Das zweite, und ich bin sogar der Ansicht, dass ich das hervorragend mache, denn bei meiner Küchenarbeit kann ich viel Musik hören. Ich mag besonders die Sleaford Mods und gehe an jede Menge Festivals.

Und welches ist Ihr nächstes Projekt?
Das ist noch geheim. Es geht wieder um etwas, das noch niemand zuvor versucht hat. Es wird originell und nützlich – und es bereitet mir Spass beim Schreiben.

Wie funktionierts? 
Niki Segnit erschliesst uns die Welt der Aromen im Snack-Format. In beiden Bänden ihres «Geschmacksthesaurus» unterteilt sie Produkte in verwandte Bereiche wie Trockenfrüchte oder Kräuter, aber auch in Kategorien wie blumig-fruchtig oder pikant-holzig. Unter den Bereichen greift sie zum Beispiel die Dattel oder die Tamarinde heraus und listet auf, was sich eignet, um damit kombiniert zu werden. Gleichzeitig führt sie im Ton einer geübten Flaneurin auf den Märkten der Welt aus, welche kulturellen Anklänge das jeweilige Produkt beim Geniessen hörbar macht und ergänzt diese Infos mit Zubereitungen mehr oder weniger bekannter Köche und Köchinnen. 

Die Abschnitte sind kurz und griffig, die Kapitel spannend und inspirierend. Man kann sich im «Geschmacksthesaurus» total verlieren, aber auch konkrete Aufgabenstellungen lösen. So findet man etwa heraus, dass Ananas zu Anis passt – oder steht plötzlich in der Küche und produziert pinke Randen-Kartoffel-Gnocchi. 

Der zweite Band «Der Geschmacksthesaurus – noch mehr Aromen» ist im ZS Verlag erschienen.
zsverlag.de