«Dass öffentliche Gästebeschimpfung ein Schlüssel zum Erfolg wäre, ist wissenschaftlich nicht bewiesen.»
Warum nicht wieder einmal ein Versli vom Kalenderblatt bemühen? Also, bitte schön: Krisen sind Chancen. Das weiss jeder, der nie eine Krise erlebte. Und der eine überstand und dann sein Glück mit Können verwechselte. Und selbstverständlich wissen das auch die Kriegs-, Krisen- und Pandemiegewinnler. Paketpost, Amazon, Youtube, Heimlieferservice, Ingwer. Jaja, Ingwer. «Um dein Immunsystem zu Zeiten von Corona zu stärken, gibt es ein leckeres Rezept mit Ingwer zum Selbermachen.» Alle springen aufs Trittbrett auf, noch das krümmste Rüebli wird plötzlich systemrelevant gepimpt und zum Heilsbringer hochgeschwurbelt. Ist das Volk krank, verkaufen sich Quacksalben, Weltanschauungen und Selbstdarstellungen.
Jeder liest sich aus, welche Haltung er sich von der Krise bestätigen lassen möchte. Die Loyalen erfreuen sich der funktionierenden Demokratie. Die Besserwisser wissen es noch lauter besser als sonst. Für die Systemkritiker ist das System schuld. Für die Verschwörungsgläubigen sind es die Verschwörer. Grenzen sind wichtig (SVP). Grenzgänger sind wichtig (FDP). Das Virus kommt aus dem Ausland (wieder SVP). Systemrelevanz (Gesundheitswesen). Den Abbau weiterer Regionalspitäler können sich die Bürgerlichen abschminken, imfall (SP)! Weniger Verkehr, mehr Delfine in Schweizer Städten (Naturschützerinnen, ungekämmt). Sexarbeiterinnen leiden am meisten (Streetworker). Sans-Papiers leiden noch mehr am meisten (Hilfswerker). Die asiatischen Tiermärkte sind schuld (Tierlischützer). Die Fleischindustrie ist schuld (Vegis und Vegas). Merkel & Co. sind schuld (Vegikoch Attila). Wer Letzteren nicht kennt: bloss nicht googeln! Ihn nicht zu kennen, erhöht die Lebensqualität.
Immerhin bestätigt das Coronavirus auch uns fröhliche Landsleut’. «Schweizer Ferien und Schweizer Beizen!», so jubeln Schweiz Tourismus und Ueli. Und die Aktion unter dem Motto «E Stange Geld für mini Beiz» brachte den Baselbieter Beizen 400 000 Franken ein. Das hat zwar bei 300 teilnehmenden Beizern für die meisten nicht viel mehr Wert als ein Pflegepersonal-Applaus, aber wer seine Stammgäste immer gepflegt hat, bekam ein paar 1000 Franken in die Kasse. Viel wichtiger: Die Aktion stärkt die Identifikation zwischen Gast und Gastgeber.
Monsieur Tabasco hat schon vor diesen lancierten Solidaritätsaktionen für 1600 Franken Gutscheine gekauft. «Es freut uns wahnsinnig, dass du an uns gedacht hast», schreiben Annelies und Peter vom Ochsen zurück, «das ist eine schöne Geste, und wir schätzen deinen Gutscheineinkauf sehr!» Die Heidi vom Rössli hat den Gutschein per Post geschickt mit einer tollen handgeschriebenen Karte und vier Stück frischen Nusstorten. Und die Elsi hat «mit freundlichen Grüssen» aufs Couvert geschrieben. Eine Bombe der Überschwänglichkeit war sie noch nie. Immerhin surft sie nicht noch durchs Internet und watscht dort Gäste ab, die ihr Gutscheine abkaufen. So wie zum Beispiel Harry. Harry hat auf Facebook die Grafik einer gastronomischen Kostenstruktur gepostet, um den Gästen darzulegen, wie dünn in der Branche der Grat zwischen Erfolg und Scheitern ist. Und wie absurd einige Aspekte der behördlichen Anweisungen. Und das hat er überschrieben mit dem denkwürdigen Satz: «Für alle, die denken, sie retten ihre Stammkneipe, wenn sie jetzt einen Gutschein kaufen.»
Dass öffentliche Gästebeschimpfung ein Schlüssel zum Erfolg wäre, ist wissenschaftlich bis heute nicht bewiesen. Und wie man ausgerechnet jene Stammgäste im Internet dumm hinstellt, die in der Krise an ihre Beizer denken, wird an den Hotelfachschulen derzeit nicht gelehrt. Gutscheine kaufen gerade jene Gäste, denen durchaus klar ist, mit welchen beschissenen Margen Gastronomie und Hotellerie durchkommen müssen. Die wissen sehr wohl, dass ihr Gutschein ihre Stammbeizen nicht retten wird. Trotzdem setzen sie ein Zeichen. Und ausgerechnet ebendiese Gäste als naive Dummköpfe hinzustellen, ist kommunikativ suboptimal bis semidiskutabel.
Das Pflegepersonal hat nach den sympathischen Applauskundgebungen auch keine ironischen Posts abgesetzt wie «Für alle, die denken, wir hätten was davon, wenn sie jetzt ein bisschen klatschen». Die haben ihre Anliegen deponiert, wo sie hingehören, nämlich bei den Behörden und nicht bei den Leuten, die aufrichtig und dankbar geklatscht haben. Und das, obwohl das Pflegepersonal sich weitaus gröbere kommunikative Schnitzer leisten könnte als Gastgeber. Patienten werden nämlich immer kommen. Gäste nicht. Darum müssen Beizer ihre Gäste mehr pflegen als Pflegefachfrauen ihre Patienten (kleiner Scherz). Sie zu beschimpfen, liegt nicht drin. Böcke schiessen liegt nicht drin. Die Zielgruppe heisst nicht Zielgruppe, weil man auf sie schiessen, sondern weil man sie im Visier behalten soll. Manche machens mit Gemotz, andere mit Handschrift und Nusstorte. Welches Mittel das richtige war, wird sich nach der Krise zeigen.