Und sie so, dezidiert: «Tut mir leid.»
Sommer 2017. Wir trinken auf der Terrasse der Bergwirtschaft Rotsteinpass Most. Der Rotsteinpass ist ein föchelig schöner Platz. Man erreicht ihn aber nur per Wanderschuh. Der kürzeste Weg führt vom Säntis in 75 Minuten über den kantigen Lisengrat. Und wie wir so beim Most sitzen, schenkt meine Frau mir den Whiskytrek. Heisst: Ich wandere die 26 Bergwirtschaften im Alpstein ab und bekomme gegen einen Bon überall ein Dezi-Fläschli Säntis Malt. Das nötige Bonheftli gibts in jeder Beiz zu kaufen.
Ich marschiere also entzückt in die Gaststube, aber der Wirt verwirft die Hände: «Etz sömme die choge Bonheftli gaad usgange!» Dann mustert er mich und schiebt nach: «Also wienen Schlunggi gsiesch enaad nüd uus, dee geb i da Fläschli au ohni Bon. Chaufsch ’s Bonheftli im Alte Säntis voone ond gesch de Bon em nöchschte Wanderer mit, wo zo üs öberi will, oder töschen ine Guwäär.»
An dem Tag schwor ich dem Rotsteinpass meine bedingungslose Zuneigung. Jetzt schreiben wir Oktober 2021 und ich will endlich wieder mal hinüber. Der jungen Frau am Schalter der Säntisbahn auf der Schwägalp strecke ich eine 2019 abgelaufene Freikarte entgegen: «Den lasst ihr sicher noch gelten?» Sie schüttelt den Kopf. Ich so: «Jä nei, den müsst ihr mir doch jetz noch einlösen.» Sie so: «Einen Gutschein müsste ich, aber nicht eine Freikarte». Dann ich so: «Kulanz …?». Und sie so, dezidiert: «Tut mir leid.»
Eine halbe Stunde später, in der Bahn auf den Kronberg, bin ich nicht mehr beleidigt. Aber baff, das bin ich noch. Es ist also noch nicht bis zur hochrentablen Säntisbahn vorgedrungen, dass man mit Kulanz aus Gästen und Kundinnen Botschafter macht. Vor Jahren verrechnete mir mal ein Kondukteur im Voralpenexpress aus lauter guter Laune die Gebühr für einen Streckenwechsel nicht. Seither nehme ich den Voralpenexpress öfter, obwohl ich länger habe, weil mich dabei eine schöne Erinnerung begleitet. Während der Pandemie bestellte ich in drei Beizen für jeweils einige 100 Franken Gutscheine. Heidi im Rössli schickte mit den Gutscheinen vier Stück Selbstgebackenes, während es der Wirt meiner Stammbeiz – das war sie seit 25 Jahren – nicht einmal schaffte, ein handschriftliches Merci auf die Gutscheine für 300 Franken zu schreiben. Seither habe ich eine andere Stammbeiz. Auch bei den regelmässigen Familienfesten.
Die junge Frau bei der Säntisbahn hätte mich wohl nicht mal durchwinken können, wenn sie es gewollt hätte, aus technischen Gründen oder wegen eines Scripts der Geschäftsleitung für solche Situationen. Auf dass die Rekorde im Geschäftsbericht nicht von summierten Kulanzkosten getrübt werden. Kulanzgewinne kann man halt nicht quantifizieren.
Seit Jahrzehnten lade ich die Leute ins Appenzellerland und prolete dann immer: «Der Säntis ist Pflicht.» Kinder, Nichten und Neffen bekamen von mir oben in der Bergstation ein Säntis-Sackmesser, wenn sie den Berg das erste Mal mit mir via Tierwis erobert hatten. Die Jüngste schaffte es mit sieben. Wie stolz die jeweils strahlten! Die werden alle wiederkommen und mit ihren Kindern eines Tages das Gleiche machen.
Meine zwei abgelaufenen Freikarten hatte ich bei einem Fotowettbewerb mit Aufnahmen des Säntis gewonnen. Die hatte ich ständig gepostet, auch auf Facebook. Wie viel Geld ich mit meinen Gruppen aus dem In-und Ausland schon gebracht habe und wie viel Umsatz die von mir angesteckte nächste Generation bringen wird, steht in keinem Geschäftsbericht. Auf Hochkasten, Ebenalp oder Kronberg bin ich auch oft, und ich würde ins Blaue hinaus vermuten, dass dort der Mitmensch am Schalter angesichts einer abgelaufenen Freikarte gesagt hätte: «Jo also, lömme no gölte, äfech niemetem säge, göll.» Bei den Innerrhödlern hatte Geschäftstüchtigkeit stets eine Note Bauernschläue.
Blöd ist jetzt aber eins: Der Säntisbahn die Liebe zu entziehen und gleichzeitig die Zuneigung zum Rotsteinpass auszuleben, ist anstrengend. Von Wildhaus, Wasserauen oder von der Staubern her sind es auf den Rotsteinpass viele Stunden und Höhenmeter. Sporadisch steige ich wohl doch noch in die Säntisbahn. Aber nicht mehr als Multiplikator, nur noch als Kunde. Dafür wandere ich wieder mehr, von Wasserauen oder von der Staubern her. Die 26 Fläschli sind sowieso ausgetrunken, der nächste Trek steht an. Inzwischen funktioniert er einfacher, ohne Bonheftli. Und schlafen werden wir auf dem Rotsteinpass beim Albert Wyss, der findet, dass ich nicht aussehe wienen Schlunggi.
Ueli Prager selig, der Gründer von Mövenpick, sagte mir im Rahmen seines letzten grossen Interviews: «Manchmal muss man das Geld vorne zum Fenster hinaus werfen, damit es durch die Hintertür wieder hereinkommt.»