«Ich wollte immer einen fairen Guide herausgeben, so schwer das auch ist.»
Die neue Ausgabe des Gault & Millau ist gedruckt und kommt am 10. Oktober in die Verkaufsregale. Wie geht es der Schweizer Gourmetgastronomie?
Urs Heller: Sie ist unter Druck, es gibt viele Wechsel. Zum ersten Mal ist auch die Zahl der erwähnten Restaurants im Gault & Millau zurückgegangen. Es sind noch immer über 800 Betriebe. Aber es ist schwieriger geworden, in der Schweiz ein gutes Restaurant zu führen.
Auffällig viele hoch bewertete Küchenchefs arbeiten mittlerweile in Hotels, in denen mehr Geld und Personal zur Verfügung stehen als in unabhängigen Restaurants. Fair ist das nicht.
In dieser Frage wirken zwei Kräfte in mir. Auf der einen Seite freut es mich, dass sich praktisch kein Hotel mehr leisten kann, eine schlechte Küche anzubieten. Das war nicht immer der Fall. Zudem ist ein Hotel ein sehr guter Ausbildungsplatz. Schlecht finde ich, dass die Spiesse nicht mehr gleich lang sind. Es ist klar, dass ein Koch im Hotel ganz anders wirken kann, weil er über die Matratzen subventioniert wird. Aber man kann diese Entwicklung nicht aufhalten. Ich hoffe nur, dass auch jene Köche, die weder Mäzen noch Hotel im Rücken haben, ihren Platz finden. Es gibt ja durchaus Beispiele dafür.
Die werden aber immer seltener.
Es ist schwierig, klar, aber vielleicht ist es auch eine Frage der Härte. Wenn ich höre, dass sich ein Koch mit 26 Jahren erschöpft in eine Auszeit begibt, weil er schon so wahnsinnig lange gearbeitet hat, dann ist das vielleicht nicht das Holz, aus dem die Champions geschnitzt sind. Nehmen Sie zum Beispiel Franz Wiget vom Restaurant Adelboden in Steinen, der kocht weitab vom Schuss, ohne Sponsor und ohne Hotel auf einem Topniveau. Sogar ich habe grösste Mühe, dort einen Tisch zu kriegen.
Sie bezeichnen das Engagement bei Gault & Millau als Ihr Hobby, was fasziniert Sie konkret an der Testerei?
Das Entdecken. Wir konnten in den letzten 20 Jahren vielen jungen Köchen aus dem Starthäuschen helfen. Danach müssen sie ihren Weg selbst gehen. Daniel Humm war zum Beispiel 2002 Entdeckung des Jahres. Ich bin auch überzeugt, dass Sven Wassmer eine grosse Karriere machen wird, Nenad Mlinarevic ist voll im Kommen und bei Tanja Grandits warenwir von Anfang an dabei. Das ist die schönste Rolle von Gault & Millau. Wie soll denn ein junger Koch irgendwo auf dem Land bekannt werden, wenn nicht durch einen Führer oder ein Magazin?
Vielleicht über Facebook oder Tripadvisor?
Das ist nicht vergleichbar. Nach einem Eintrag bei Tripadvisor ist noch nie ein Restaurant voll geworden. Erscheint jemand im Gault & Millau, «chlöpfts» in der Kasse. Kochen ist ein anstrengender Beruf, die meisten Köche haben weder die Zeit noch die Begabung für eine professionelle Kommunikation.
Wenn Sie zurückschauen, haben Sie Ihre Ziele mit Gault & Millau erreicht?
Ich wollte immer einen fairen Guide rausgeben, so schwer das auch ist. Denn am Ende ist das in vielen Bereichen eine subjektive Veranstaltung. Und ich habe mir immer gewünscht, dass der Gault & Millau ein solides Standing hat, dass man zumindest anerkennt, dass wir uns Mühe geben, dass wir fleissig sind und versuchen, gerecht zu sein. Ich glaube, das haben wir erreicht.
Reden wir über die Konkurrenz. Michelin-Sterne sind unter den Köchen beliebter als Gault-Millau-Punkte, ausser in der Schweiz.
Das hat damit zu tun, dass unsere Tester, im Gegensatz zu jenen von Michelin, aus der Schweiz stammen. Wie soll ein deutscher Michelin-Inspektor im Binntal eine Beiz entdecken? Dass sie bei uns abschreiben, daran haben wir uns langsam gewöhnt. Aber das Entdecken kriegen sie selber nicht hin. Und dann ist es hilfreich, dass Gault & Millau Schweiz in ein starkes Verlagshaus eingebunden ist. Diesen Vorteil können wir spielen. Es gibt kaum ein Magazin bei Ringier, das nicht über Restaurants schreibt und dabei Gault & Millau in einem Nebensatz erwähnt. In der Schweiz finden Köche darum beides gut: Sterne und Punkte.
Was halten Sie vom System Michelin?
Mit nur drei Abstufungen hätte ich Mühe, meinen Job zu machen. Bei Michelin sind drei Sterne ein klares Statement. Wenn ich aber die Liste mit Ein-Stern-Restaurants anschaue, sind die Unterschiede gewaltig. Das hilft mir als Gast nicht weiter. Wir haben die besseren Abstufungen und vor allem die Texte. Das sind 800 Mal eine journalistische Arbeit, mal besser, mal schlechter. Der Leser soll nach der Lektüre wissen, was ihn in dieser Wirtschaft erwartet.
Kürzlich hat Michelin einen Imbissstand in Singapur mit einem Stern ausgezeichnet. Ihre Meinung dazu?
Das ist vielleicht ein bisschen krass, aber sicher medienwirksam, und wenn er wirklich gut ist, wieso nicht?
Was würden Sie am Gault & Millau ändern, wenn Sie nicht an die Vorgaben des Lizenzgebers in Frankreich gebunden wären?
Eigentlich machen wir sowieso, was wir wollen (lacht). Ich könnte mir vorstellen, dass unter jedem Text der Name des Testers steht. Ich weiss nicht, ob das Anonyme noch in diese Zeit passt. Und wenn es Frankreich nicht gäbe, hätte ich Frédy Girardet 20 Punkte zum Abschied gegeben. Das war aber nicht erlaubt.
Bei unserem letzten Interview vor fast zehn Jahren prophezeiten Sie treffsicher das Ende der Molekularküche.
Sie hatte eine dämliche und eine gute Seite. Dämlich war, dass man die schönsten Produkte zugunsten eines Erlebnisses zerstörte. Gut ist, dass sie den Köchen ein paar interessante Techniken hinterlassen hat. Aber die Bewegung selbst war unsinnig.
Was prophezeien Sie der Neuen Nordischen Küche mit ihrem streng regionalen Ansatz?
Dass man als Koch zuerst vor seiner eigenen Türe nach Produkten sucht, ist nur natürlich und alles andere als neu. Das Gleiche gilt übrigens für die «Nose-to-Tail»-Bewegung, die im Grunde nichts Anderes ist als eine «Metzgete», ein Urphänomen der ländlichen Küche. Wenn nun Köche wie Nenad Mlinarevic die Suche nach lokalen Lebensmitteln auf die Spitze treiben, unterstütze ich das, weil es Konsequenzen hat. Zum Beispiel für die Bauern, die animiert werden, besser zu produzieren, weil sie einen höheren Preis erzielen können. Auch das Gespräch im Restaurant wird spannender und es befreit Köche in wirtschaftlich schwierigen Zeiten davon, extrem teure Produkte aus dem Ausland einzukaufen.
Sie sind jetzt 63 Jahre alt. Was passiert mit Gault & Millau nach der Ära Heller?
Das weiss ich auch noch nicht so genau. Ein paar Ideen sind schon da. Meinen Job als Tester kann man auch im Pensionsalter ausüben, so schwierig ist das nicht. Zurzeit beschäftige ich mich aber vielmehr damit, wie es mit dem Gault & Millau weitergehen soll.
Erzählen Sie.
Wir werden den Gault & Millau nächstes Jahr ausbauen und online zugänglich machen. Dort werden wir Platz schaffen für alle neuen Entwicklungen, die im gedruckten Gault & Millau keinen Platz haben, ich denke da an die Bloggerszene oder aber an Pop-up-Restaurants, die zurzeit komplett an uns vorbeigehen. Die Herausforderung wird sein, unsere Kompetenz ins Netz zu tragen. Dafür brauchen wir gute Blogger und klare Richtlinien. Auch online werden wir niemanden beleidigen, es ist nicht unsere Aufgabe, jemanden herunterzumachen.
Was sind die Kriterien für die Punktevergabe?
Es gibt Kriterien, nur sind sie schwierig zu formulieren. Am besten kann man es anhand eines Essens erklären, so bilde ich auch neue Tester aus. Das wichtigste Kriterium ist der Geschmack. Dann müssen etwa die Saucen frisch angesetzt sein. Es muss eine Handschrift erkennbar und Leidenschaft spürbar sein. Convenience ist eigentlich tabu; nur bei den Spaghetti sind eingekaufte Produkte meist besser als selbstgemachte.
Das ist alles ziemlich schwammig.
Wir vertreten die Gäste. Und die besuchen eine Beiz auch nicht mit einer 100-Punkte-Checkliste unter dem Arm und schauen, ob es genügend Toiletten-Ersatzpapier hat. Unsere Tester gehen unbeschwert ins Lokal, konzentrieren sich beim Essen, verteilen eine Punktezahl und beschreiben, was sie als Gast im Restaurant empfinden. Zum Beispiel, ob ihnen eine Sauce in Erinnerung bleibt, ob einen die Rechnung reut oder ob die vegetarische Freundin ebenfalls einen guten Abend verbrachte. Ich finde die weichen Kriterien gar nicht so schlecht, weil sie die Realität wiedergeben.
Was sagen Sie einem Koch, der sich 16 Punkte erkochen will und fragt, wie er das anstellen soll?
Da halte ich mich extrem zurück. Ich finde, dass jeder Koch seinen eigenen Weg gehen soll. Auch wenn ich denke, dass sich einige auf einem Irrweg befinden, ist es nicht meine Aufgabe, sie davon abzuhalten. Ich bin kein Koch, sondern Gast. Ich schreibe am Schluss einfach, was mir gefallen hat und was weniger.