«In allen Ländern mit Weinhistorie fehlt der Blick aus einer anderen Perspektive – nämlich der, dass auch eine alkoholfreie eine gute Begleitung sein kann.»
Nein, Jennifer Kiessling mag Wein nicht: Sie liebt ihn. Das sei vorausgeschickt in dieser Geschichte, in der sich alles um gute Alternativen dreht. Alternativen zum Wein – für die Kiessling an dieser Stelle eine Lanze bricht. Die erklärte Getränkeenthusiastin machte sich vor gut einem Jahr selbstständig. Pairing is caring, so heisst ihr Unternehmen, und der Name beschreibt treffend, was Kiessling beruflich tut: Sie berät Gastronomen bei der Konzeption ihrer Getränkekarten sowie Speisenbegleitungen und hat sich auf Pairings ohne Volumenprozente spezialisiert. Einen Namen machte sie sich schon 2017, als sie an der Seite der Bündner Naturköchin Rebecca Clopath erstmals für deren Tafelrunden die Getränke kreierte. Unlängst trat sie in Zürich in Erscheinung: mit alkoholfreien Drinks für das Sommer-Pop-up Brutal im Restaurant Coming Soon. Das Menü wechselte wöchentlich, das Pairing ebenso. «Bei der alkoholfreien macht man nichts anderes als bei der Weinbegleitung», sagt Kiessling. «Man achtet auf die Dramaturgie und darauf, den Gast nicht zu überfordern, indem man mit etwas Zugänglichem startet und die Komplexität steigert. Kurz: Man stimmt die Getränke aufs Essen ab.»
Das bestätigt Amanda Wassmer-Bulgin, Wine Director im neu eröffneten Grand Hotel Quellenhof in Bad Ragaz: «Wie bei der Weinbegleitung versuche ich auch beim alkoholfreien Pairing, das Gericht erst auf seine Moleküle herunterzubrechen. Dann schaue ich, welche Geschmacksrichtungen passen.» Die Sommelière gehört in der Schweiz zu den Vorreitern, was alkoholfreie Pairings betrifft. Das Eröffnungsmenü im Restaurant Memories unter der Ägide ihres Ehemanns Sven Wassmer komplettierte sie nicht nur mit einer illustren Auswahl an Weinen, sondern auch mit einer spannenden Reihe an alkoholfreien Getränken, darunter Gin, Heu-Kombucha, Wildbeerensaft und verschiedene Tees.
Und trotzdem: Wirklich vergleichen respektive einfach kombinieren kann man Weinbegleitung und alkoholfreies Pairing dann doch nicht. «Sie folgen ähnlichen Regeln, aber unter anderen Bedingungen und in verschiedenen Geschmackswelten», sagt Kiessling. Wichtigster Unterschied ist nicht der «fehlende» Alkoholgehalt, sondern der Prozess, der dem Pairing vorausgeht. Kiessling etwa fermentiert und destilliert, was das Zeug hält, sie macht ein und zieht aus, mischt und experimentiert. Für eine raffinierte alkoholfreie Speisenbegleitung reicht es nicht, eine Flasche zu öffnen.
Aber warum, kann man sich fragen, brauchts überhaupt eine Alternative zur Weinbegleitung – neben ordinärem Wasser und den üblichen Süssgetränken? Mehr als eine Antwort darauf kennt Nicole Klauss. Die Berlinerin ist kulinarische Autorin («Die neue Trinkkultur»), Beraterin für die Gastronomie und Referentin. Und sie gilt in der Branche mit als Gradmesser, wenns um alkoholfreie Pairings geht. «Einerseits», sagt sie, «gibts immer mehr Gäste, die keinen Alkohol trinken, andererseits möchten auch diese eine passende Begleitung zum Essen bekommen. Der Krug Hahnenwasser oder ein süsser Eistee macht niemanden mehr froh.» Klauss ortet da in der Schweiz Luft nach oben: «Wie in allen Ländern mit Weinhistorie fehlt der Blick aus einer anderen Perspektive – nämlich der, dass auch eine alkoholfreie eine gute Begleitung sein kann», sagt sie. Dass Bedarf besteht, sieht man inzwischen aber auch hier. «Der Trend geht seit einigen Jahren dahin, dass die Gäste weniger und bewusster Alkohol trinken», sagt Benjamin Gilly, Restaurantleiter im Corso und von Unikatessen im Corso in St. Gallen. «Die Gastronomie muss da aus ihrer Komfortzone raus und ein Angebot schaffen.» Das habe schliesslich grosses Potenzial: «Ich kann die Gäste abholen, die getränketechnisch im Abseits stehen. Schwangere, Autofahrer, Gesundheitsbewusste, Minderjährige... eine riesige Gruppe, die bislang mit Mineralwasser abgespeist wurde.»
Gilly schwärmt von den Möglichkeiten des alkoholfreien Pairings: «Der Spielraum ist wesentlich grösser als bei der Weinbegleitung», sagt er. Das sieht Kiessling ebenso. Ob Temperatur, Textur oder Farbe: Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. «Dahingegen ist die Weinbegleitung nur schon visuell beschränkt: Es gibt eine Range an Farbe und Viskosität, dazu verschiedene Gläser – das wars.» Bei der alkoholfreien Begleitung ist das Feld weiter: mit Frucht- und Obstsäften, Milchprodukten wie Molke oder Buttermilch, Fermentiertem wie Kombucha oder Wasserkefir, Tees und Auszügen, essigbasierten Getränken wie Shrubs oder Verjus... um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Kiessling kokettiert in ihren Pairings gern mit Farben, wobei die Saison eine tragende Rolle spielt: Während ein leuchtendes Grün im Sommer Erfrischung verheisse, passe es im Winter höchstens in Verbindung mit Tannennadeln, findet sie. Fürs Brutal-Pop-up produzierte sie diverse Aguas frescas, also leichte Mischungen aus Wasser, Frucht und Zucker, unter anderem eins mit Wassermelone (sehr rot) und eins mit Gurke (sehr grün). Ausgeschenkt aus der blickdichten Teekanne war der Überraschungseffekt am Tisch garantiert. Auch das, sagt Kiessling, sei spannender als beim Wein: «Man ist im Service freier, kann die Getränke aus diversen Gefässen ausschenken, sie am Tisch in der Soda-Flasche frisch aufsprudeln oder sogar aus dem Rahmbläser ins Glas sprühen.» So gesehen erstmals im Horváth in Berlin – Kiesslings liebster Referenz in Sachen alkoholfreie Begleitung. «Wenn man es gut aufgleist, ist das alkoholfreie Pairing für den Gast oft spannender als der Wein», sagt sie. «Und immer mehr Leute teilen sich auf: Einer bestellt das Pairing mit, der andere jenes ohne. Dann wird quer verkostet.»