«Acht von 21 sind geschieden, aber nur Sandra hat was draus gemacht.»
Bei einem Klassentreffen sieht man, was aus den Gspänli so geworden ist und was nicht. Harry ist Zahnarzt mit Vollglatze, Salvatore betreibt drei Pizzerias und braucht zwei Stühle, Andreas I stellt sich vor als «Chief irgendwas Officer», («ihr versteht eh nicht, was ich mache, ich verstehs ja selber nicht»), Andreas II hat auf Mutterkuhhaltung umgestellt und blieb bei «Bauer, ledig, sucht ...» erfolglos, Karin leitet ein Hilfswerk auf Lesbos, Mathegenie Toni hat sich vor drei Jahren zu Tode gesoffen, Irene ist fünfsprachig und lässt grüssen aus Prag, und den alltagstauglichen Kurzhaarfrisuren der übrigen Damen nach zu urteilen haben sie Kinder und arbeiten Teilzeit. Acht von 21 sind geschieden, aber nur Sandra hat was draus gemacht, ihr Institut für Schamanismus, Auramalerei und hormonelle Dysbalancen braucht nicht zu rentieren. Eins aber verbindet im Weissen Kreuz an diesem Abend alle: Sie verstehen kaum ein Wort. Weil es so laut ist.
Klassentreffen sind Ausnahmesituationen und emittieren so viel Lärm wie Langstreckenflieger beim Abheben. Aber auch unter normalen Umständen sind viele voll besetzte Restaurants oftmals so laut, dass man sich fragt, ob Gastgeber und Innenarchitekten beim Konzipieren des Betriebs taub waren. Viele moderne Restaurants sind hübsch anzuschauen, aber nur wenige sind auch hübsch anzuhören. Dabei isst das Ohr mit. Die Akustik im Raum hat einen wesentlich grösseren Anteil am Gesamterlebnis des Gastes und am Wohlbefinden der Gästin als gemeinhin angenommen. Es müsste selbstverständlich sein, beim Gestalten und Einrichten auch mal einen Akustik-Profi zwei, drei Dezibel lang über Resonanzkörper und Nachhall bei unterschiedlicher Belegung nachdenken zu lassen.
In andern Branchen sind Sounddesigns selbstverständlich. Hasselblad hat das ganz spezielle Klicken seiner Kameras urheberrechtlich schützen lassen. Epiliergeräte für Damen müssen so sanft klingen, wie sie sich anfühlen sollen, während Rasierapparate für wahre Männer eher an Holzfäller in Alaska erinnern müssen. Monsieur Tabasco arbeitet seit drei Computergenerationen auf derselben alten Tastatur, weil sie angenehm satt und dezent klingt, während die neuen so billig scheppern wie ein Fiat Panda mit 200 000 Kilometern auf dem Tacho.
Wie sehr sich die Akustik auf die Stimmung und das Wohlbefinden von Menschen in Innenräumen niederschlägt, wissen die Autobauer. Porsche arbeitet seit den Sechzigerjahren bewusst am Klang seiner Autos. Hausinterne Spezialisten entwickeln im Tonstudio die Anlassergeräusche jedes Modells. Viele Autokonzerne lassen sich das Geräusch ihrer Autotüren beim Zuschlagen patentieren. Eine Jaguar-Türe muss dezent, dunkel und warm klingen, an schwere Möbel und Teppiche erinnern. Also basteln die Ingenieure so lange an der Dämmung und am Schloss herum, bis die Türe an soliden Reichtum erinnert. Weltweit optimieren die Ingenieure Auspuff, Ansaugtrakt, Motoraufhängung und Abstimmung der Motorlager, bis der Klang die richtigen Assoziationen auslöst. Bei BMW haben die Akustiker einen Simulator gebaut, indem sie das Trommeln des Regens auf das Autodach, den Fahrbahnbelag, die Aufhängung des Motors, den Klang des Auspuffs, das Krachen der Ledersitze analysieren und optimieren. Selbst manche Hersteller von Küchengeräten optimieren die Geräuschkulisse ihrer Maschinen.
Alle, ja wirklich alle, wissen, wie wichtig die Akustik in Innenräumen ist – warum aber ist das so vielen Gastgebern nicht klar? Früher haben Teppiche, schwere Vorhänge und anderer Textilkram viele Dezibel absorbiert, heute sind die Gasträume häufig grösser und offener, Locations im Industrial Design haben nicht mal mehr Decken, sondern geben den Blick auf entsetzlich sinnliche Lüftungsrohre frei. Da sitzt der Gast oft genug mitten in einem Resonanzkörper.
Bookatable hat 2000 Restaurantbesucher im deutschsprachigen Raum zum Thema Lärm befragt. Acht von zehn Personen sagten, sie hätten schon Lokale früher verlassen, weil es ihnen zu laut gewesen sei. Weil also ein Gastgeber vergessen hat, warum die Menschen zu ihm kommen: nämlich fast gar nie wegen ihm und auch nicht allzu oft wegen Futter und Tränke, sondern primär wegen der anderen Menschen. Die wollen sich doch einfach nur unterhalten. Und zwar auch in der trendigsten Tapas-Bar mit Live-Musik zur Happy Hour, in der man im Gespräch vielleicht nicht unbedingt Hegel und Schiller erörtert. Menschen möchten einander verstehen. Vor allem aber möchten Menschen verstanden werden.
Sandra und Andreas II haben übrigens versprochen, die nächste Klassenzusammenkunft zu organisieren. In einer Beiz, in der man miteinander reden kann wie normale Menschen.