27.08.2024

Nach dem Trink ins Zimmer

Text: Monsieur Tabasco
Die Gastronomie schreibt Liebesgeschichten! Jene von Anton Mosimann, zum Beispiel. Oder von Monsieur Tabasco höchstpersönlich.
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Wo Menschen sich begegnen, ist für Fortpflanzung gesorgt.

«3. Juli 1955. An die Serviertochter im Rest. Landhaus, Amriswil. Wertes Fräulein! Schon einige Mal war ich im Landhaus zu Gast, u. das gar nicht wegen Durst oder Zeitvertreib, nur einzig u. allein wegen der schnellen und mir sehr sympathischen Serviertochter. Ich besitze nun die Frechheit, Sie zu fragen: Ob Sie vielleicht an einem freien Abend einmal etwas Zeit hätten für mich. Ich möchte gerne einmal reden mit Ihnen, in der Wirtschaft geht das ja nicht, man kann nicht für alles Zuhörer brauchen. Ich werde mir erlauben, Sie am Telefon zu fragen, bis dahin können Sie sich das überlegen.»

Wo Menschen sich begegnen, ist für Fortpflanzung gesorgt, und in der Gastronomie und in der Hotellerie begegnen sich viele Menschen. Hofas und Kellner, Commis und Serviertöchter, kreuz und quer, an Saisonstellen und in Ganzjahresbetrieben treffen sie sich, in Nacht- und Zimmerstunden und Personalzimmern gibts Brust oder Keule, in einer so sinnlichen Branche gehört die Aufrechterhaltung von Keuschheit nicht zu den Kernkompetenzen des oftmals jungen Personals und noch weniger zu den Primärzielen der Gäste. An den Stammtischen jener Wirtschaften, in denen man Servicefachfrauen in rustikaleren Zeiten noch Serviertöchter nannte, streiften charakterlich frugal ausgestattete Gäste ebendiesen auch schon einmal vor Mitternacht aus Versehen das Füdli. Die Braven griffen stattdessen zum Griffel.

«Damit Sie wissen, was ich betreibe, sei es hier kurz erwähnt: Bin Bauernsohn, ref., lebe zus. mit den Eltern auf einem Hof von 30 Juch., den ich bekomme, bin einziger Erbe. Mehr will ich vorderhand noch nicht verraten, da ich ja nicht weiss, ob Sie vielleicht schon vergeben sind oder ein Landwirt für Sie nicht infrage kommt. Aus diesen Gründen gebe ich vorderhand meine Adresse nicht bekannt.»

Neun Jahre später, am 20. Oktober 1964, geht ein Kochlehrling nach Feierabend in den Rebstock in Twann, um einen Jass zu klopfen. Doch zum Jassen fehlt die Musse, denn Serviertochter Ruth fängt an, mit ihm zu plaudern. Er offeriert ihr ein Mineralwasser. Zwei Wochen später marschiert er wieder hin, «voller Freude», wie er seinem Tagebuch anvertraut, aber Ruth ist leider krank. Drei Wochen darauf geht er dann mit Vreni aus, die ihn kurzerhand zu sich einlädt, um etwas zu trinken, «und nach dem Trink führte sie mich in ihr Zimmer». Honi soit qui mal y pense.

«Dass Sie aber doch wissen, was für einer das ist, erinnern Sie sich am besten an den gestrigen Abend, ca. 9 Uhr, blaue Manchesterkleidung, Sturzhelm. Sicher wissen Sie jetzt Bescheid. Ich hoffe nun, Sie werden nicht abgeneigt sein, mit mir einen Abend zu verbringen. Noch etwas möchte ich erwähnen: Mir ruhig klaren Wein einschenken, auch wenn es eine Absage sein sollte.»

Sechs Jahre später, am 1. Februar 1970, steigt in Zürich ein 23-jähriger Seeländer in den Flieger der Swissair nach Tokio. Auf seinem reservierten Fensterplatz sitzt eine 26-jährige Ostschweizerin, liest Zeitung und will nicht weichen, weil ihr am Fenster weniger schlecht wird: «Nehmen Sie doch einfach neben mir Platz!» So lernen sich der Küchenchef und die Chefgouvernante des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung in Japan kennen.

18 Jahre später, 1988, schliesst im Seeblick Emmetten ein sonniger kleiner Kochlehrling die Ausbildung ab und verlässt das Haus mit drei Träumen im Rucksack: Er will Autor werden, einen BMW 1200 mit Boxermotor fahren und die flotte rothaarige Serviceschnupperlehrtochter kriegen. Und das ohne 30 Jucharten Land.

Ob die schnelle und sympathische Serviertochter vom Landhaus 1955 abgeneigt war, mit dem reformierten Alleinerben einen Abend zu verbringen, ist nicht mehr in Kenntnis zu bringen, aber zu einem langfristigen Erfolg führte der Brief an das werte Fräulein nicht. Frauen achten bei Männern ja mehr auf Humor als auf Jucharten, zumindest gemäss Eigendeklaration. Geheiratet hat sie dann jedenfalls einen anderen, der ihr ebenfalls beim Servieren zugesehen hatte. Eins ihrer Kinder lernte Koch, heiratete eine Rothaarige, fuhr einen BMW mit Boxermotor und schrieb die Autobiografie des Londoner Kochs Anton Mosimann, der erzählte, wie er 1970 auf dem Flug nach Tokio seine künftige Frau Kathrin kennenlernte. Und wie er 1964 von Vreni nach dem Trink in ihr Zimmer geführt worden war.

Ohne die Beziehungsweisen und Schwangerschaften aus der Gastronomie der letzten Jahrzehnte wären Dichtestress, Wohnungsknappheit und Überbevölkerung kleiner. Aber die Welt wäre ärmer. In den kalten Zeiten von Tinder braucht es Branchen, in denen man sich natürlich näherkommt. Ein Hoch auf die Begegnung.