Meine Frau und ich achten beim Einkaufen, Kochen und Essen auf Frische, Jahreszeit und regionale Herkunft. Das schlägt nun offenbar bis auf unseren Kater durch, der sich am Sonntagmorgen ein frisches Katerfrühstück mit einem naturbelassenen Produkt aus dem eigenen Garten gönnt. Die CO2-Bilanz dieser kleinen Mahlzeit ist fantastisch, der Klimapfotenabdruck der Katze tadellos. Kein Transportweg, keine Verpackung, keine industrielle Verarbeitung, der verzehrte Spatz hat artgerecht in der freien Natur gelebt und ist an diesem lauschigen Sonntagmorgen eines naturnahen Vogeltodes gestorben, freundlich unterstützt von unserem vierbeinigen Sterbehelfer.
In der Schweiz touren zwei Dutzend Wölfe durch die Wälder. Sie werden geschützt von einem Wolfskonzept, das uns Schweizer jährlich 80 000 Franken kostet, pro Wolf und Jahr. In Eritrea sind das über 100 Jahreseinkommen. Wer hat Lust, einem Kleinbauern in Eritrea zu erklären, dass in der Schweiz hochgerechnet alle vier Tage ein ganzer eritreischer Jahreslohn ausgegeben wird, um zwei Dutzend Wölfe zu schützen, die dann zum Dank dafür sorgen, dass im Bündnerland oder im Wallis immer wieder mal ein Schaf verstreut auf einerAlp herumliegt? Die Wolfsversteher vom WWF?
Ein Schaf ist nicht weniger wert als ein Wolf. Eine illegale Walliser Kugel in einemWolfskopf kann vielen Schafen ein längeres Leben und einen angenehmeren und sinnvolleren Tod ermöglichen. Könnte das Schaf seine Todesursache wählen, es würde wohl den schnellen Tod beim Metzger wählen und nicht das qualvolle Verenden nach dem Besuch eines Wolfs. So wie der Spatz wohl auch lieber unter einem Tesla heimgehen würde als unter unserem Bett mit unserem Büsi. Und ein Reh würde zweifellos lieber vom Jäger geschossen, als vom Wolf zerfleischt. Wers bezweifelt, soll mal einem Spatzen, einem Reh oder einer Gruppe gerissener Schafe beim natürlichen Verenden zusehen. Es ist schwer zu ertragen.
In der Natur kommt nicht erst das Fressen und dann die Moral. Da kommt erst das Fressen und dann das Gefressenwerden. Katzen und Wölfe und Schafe und Spatzen kennen keine Moral. Nur der Mensch. Früher im Zusammenhang mit Religion. Heute mit Natur, Gesundheit und Ernährung. Der Mensch blickt in die Speisekarte, schaut sich die Herkunftsländer der Zutaten an, denkt an Fairtrade, bio, Tierschutz, Menschenrechte und CO2-Bilanz und fragt den Kellner mit ernstem Blick, ob er garantieren könne, dass die Gluten auch wirklich artgerecht und in fair bezahlter Handarbeit aussortiert und der Wiederverwertung zugeführt wurden.
«Natürlich» ist edel & gut, gesund & «unverfälscht », was auch immer «unverfälscht» heissen mag. «Natürlichkeit» ist zum moralischen Massstab geworden. Essen und Trinken sind heute Gottesdienste, wie jeder Messdiener im Restaurant bestätigen kann, wenn er die Bestellungen aufnimmt und an seinem Abendmahlstisch sechs Andersgläubige hat. Statt mit Gnade und Sühne ist der Heilsweg heute gepflastert mit Chai und Chia, und «gesündigt » wird statt in Nachbars Bett in der Konditorei.
«Die Dosis macht das Gift,
bei Antibiotika wie bei der Moral.»
Die Moral hat allerdings bei der Züglete von der Theologie hinüber zur Ernährung ihre kleine Schwester mitgenommen, die Doppelmoral. Direktbetroffene predigen Wasser und trinken Wein, predigen bio und kaufen Aktion. Und genau weil Moral gern doppelt auftritt, sollte man sie nicht allzu sehr strapazieren. Es könnte auf einen selber zurückfallen. Es ist heikel, über Leute zu urteilen, die sich nicht so ernähren wie man selber. Über Leute, die Fleisch essen.Oder die kein Fleisch essen. Oder die Wein trinken. Oder die keinen Wein trinken. Oder die nicht bio kaufen. Oder die unter «natürlich » allgemein etwas anderes verstehen als man selber.
Es ist genauso heikel, über Bauern zu urteilen, die nicht bio melken oder produzieren. Die meisten Bauern und Jäger, Metzger und Köche bringen den Tieren mehr Respekt entgegen als eine Katze einem Spatzen. Nicht jedes Herbizid muss des Teufels sein, und auch nicht jede Spritze, die ein Tierarzt einer Kuh setzt. Und Antibiotika haben zu viele Leben gerettet, als dass sie per se zum Sinnbild des Bösen taugen. Erst die Dosis macht das Gift, bei Antibiotika genauso wie bei der Moral.
Selbst das Urteilen über Walliser ist heikel( auch wenn es Freude macht), denn aus dem Blickwinkel eines eritreischen Kleinbauern ist vermutlich der WWF krank und der Walliser Ballermann der wahre Tierschützer, der mit seinem eher unkompliziert herben Charme 100 bravenLämmern das Leben rettet. Und es ist sogar heikel, über meine Katze zu urteilen, die unter meinem Bett mit demselben Charme einen 100-fachen Regenwurmkiller aus dem Verkehr zieht.
Ich habe die Katze trotzdem am Schlafittchen gepackt und hochkant rausgeschmissen. Der Spatz war schwächer als die Katze, und seine Solidarität mit den Schwächeren wird auch ein eingefleischter Moralskeptiker so schnell nicht los. Natürlich ist sie nicht, diese Solidarität, aber menschlich.