03.07.2017 Salz & Pfeffer 2/2017

«Nicht mehr viel zu retten»

Interview: Tobias Hüberli – Fotos: Tina Sturzenegger
Seit 35 Jahren schützt Hans-Peter Grünenfelder Nutztierrassen in ganz Europa vor dem Aussterben. Im Interview blickt der Gründer von Pro Specie Rara zurück auf eine bewegte Zeit.
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«Die ersten zehn Jahre von Pro Specie Rara hat es mich fast zerrissen.»

Sie nennen sich Ethnozoograph. Was soll das sein?
Hans-Peter Grünenfelder: Diese Berufsbezeichnung habe ich mir selbst zugelegt, eigentlich existiert sie gar nicht. Es gibt den Ethnozoologen, und im Französischen kennt man die ethnozootechnie. Ich wählte die Ethnozoografie deshalb, weil meine Tätigkeit mit menschenbezogener Zoologie, aber auch mit Geografie zu tun hat. Schliesslich habe ich einen grossen Teil Europas inventarisiert in Bezug auf alte Nutztierrassen.

1982 gründeten Sie Pro Specie Rara im Nebenamt. Was trieb Sie an?
Ich war schon immer tierverrückt. Ich gehörte zu den ersten Mitgliedern des WWF und leitete über mehrere Jahre regionale Gruppen der Organisation. Und ich half mit, das Ostschweizer Ökozentrum in Stein aufzubauen. Dort kams in den Achtzigerjahren zu einem Schlüsselerlebnis.

Erzählen Sie.
Zuerst sah ich zwei Filme des Berliner Zoologen Thomas Schultze-Westrum. Sie handelten davon, wie in Griechenland einheimische Nutztierrassen durch europäische oder amerikanische Hochleistungsrassen ersetzt wurden und zeigten, was das für die Inselwelt bedeutet. Kurze Zeit später diskutierte ich im Ökozentrum mit einem Schweinemäster. Ich fragte ihn, wieso die Fribourgerkühe nicht mehr so ausschauen wie früher, als ich die charakteristischen schwarzen Flecken in der Schule abzeichnen musste. Der Mäster meinte, dass die Fribourgerkühe schleichend ersetzt worden sind, durch Holsteiner. Da realisierte ich: Was in Griechenland passiert, geschieht auch bei uns.

Wie ersetzt man eine Rasse schleichend?
Bei den Fribourgerkühen verwendete man für die Zucht einfach nur noch fremde Stiere. Sind die männlichen Tiere einmal weg, ist die Rasse so gut wie ausgestorben. Aus diesem Grund ist auch das ehemalige Bündner Grauvieh verschwunden.

Sie setzen sich seit 35 Jahren für die Rettung bedrohter Nutztierrassen ein. Wie erfolgreich waren Sie damit bis jetzt?
Ziemlich, erstaunlicherweise. Ich hatte aber auch viel Glück. Die ersten zehn Jahre von Pro Specie Rara hat es mich fast zerrissen. Ich arbeitete ja voll beim Kanton, im Telefonbuch liess ich einen Eintrag machen, dass man mir nur zwischen sieben und acht Uhr abends anrufen soll. Ich bekam Anrufe aus der ganzen Schweiz und arbeitete immer bis zwei Uhr morgens. Diesen Rhythmus habe ich bis heute beibehalten.

Wie findet man bedrohte Nutztierrassen?
Indem man sucht. Ausserhalb der Schweiz kontaktierten wir zuerst immer die Tierärzte und fragten sie, ob es in ihrem Gebiet komisches Vieh gibt, das sie zum Beispiel nie besuchen müssen, weil es nie krank wird. Ich hatte immer ein Bild von der entsprechenden Rasse und fragte herum. So fanden wir zum Beispiel das Walachenschaf im slowakisch-ukrainischen Grenzgebiet oder aber Stiefelgeissen bei einer alten Frau in Quinten. Sie hatte keine Ahnung, dass die Rasse fast ausgestorben war. Kurz darauf verunfallte sie, und ihr Sohn gab uns 72 Stunden Zeit, um die Tiere abzuholen. Glücklicherweise hatte ich das Vorkaufsrecht. Aber das Problem war, Stallplätze für die Geissen zu finden. Seither versuchte ich immer, mindestens zwei Leute mit leeren Ställen, sogenannten Rettungsstationen, in der Hinterhand zu haben, denn bei den wirklich bedrohten Rassen muss es schnell gehen.

Ist Ihnen mal eine Rasse durch die Lappen?
Das Schwyzer Langohrschaf, leider. Da kam ich zu spät. Zwar fand ich noch eine Gruppe der Tiere bei zwei Bauern im Kanton Schwyz. Sie sagten mir auch zu, dass ich die Tiere im Herbst abkaufen könne, wenn Sie von der Alp hin­­unterkämen.

Aber?
Im Herbst sagte mir der Bauer, die Tiere seien nicht von der Alp heruntergestiegen und vermutlich eingegangen. In Wahrheit hatte er sie wohl bereits verkauft. Es gibt überall Raritätenjäger. Als wir die Stiefelgeissen retteten und das in den Medien publik wurde, boten mir Leute bis zu 3000 Franken für ein schönes Exemplar. Bei den Langohrschafen wussten ausser mir nur noch zwei Personen Bescheid. Über diese muss ein Leck entstanden sein, und so verloren wir das Schaf. Darum erzählte ich später niemandem mehr ein Wort, wenn wir an einer Rasse dran waren.

Ab wann gilt eine Nutztierrasse als bedroht?
Es kommt darauf an. Offiziell gilt eine Rasse mit einem Bestand ab 100 Tieren nicht mehr als akut gefährdet. Wir rechnen lieber mit 200 Tieren. Wichtig ist, dass nicht alle zusammen sind. Die Gruppen müssen möglichst dezentralisiert leben, so dass etwa eine Krankheit nicht den gesamten Bestand auslöschen kann. Und es braucht mindestens zehn nichtverwandte männliche Exemplare.

Im Laufe Ihres Engagements bei Pro Specie Rara gründeten Sie 1993 eine europäische Organisation. Wie wichtig ist die internationale Kooperation?
Bis dahin hatten einige Länder zwar eine Liste mit den heimischen Rassen, aber 
niemand wusste, welche Rassen grenzüberschreitend vorkamen. Das Engadiner Schaf zum Beispiel war in der Schweiz fast am Aussterben, in Italien auch, nicht aber in Österreich und Deutschland. Die Rasse hatte in vier Ländern insgesamt fünf verschiedene Namen. Darum beschlossen wir, eine Stelle zu schaffen, die ganz Europa anschaut, auch die Gebiete, in denen bezüglich Artenschutz nichts gemacht wird. Und solche gab es viele.

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Pro Specie Rara schützt nicht nur Tiere, sondern auch Kulturpflanzen. Wie steht es damit?
In der Schweiz ist es zumindest gelungen, die Leute im Pflanzenbereich zusammenzuhalten. Seit mehreren Jahrzehnten wird zudem versucht, eine europäische Dachorganisation wie bei den Nutzieren zu gründen. Aber der Pflanzensektor ist ein Flohhaufen. Züchter können gut für sich selbst arbeiten, die Inzuchtproblematik ist eine ganz andere als bei den Tieren. Darum sind sie auch nicht so stark auf Kooperationen angewiesen.

Was halten Sie von modernen Zuchtverfahren im Pflanzenbereich?
Die klassische Zucht hat immer versucht, Sorten ergiebiger oder widerstandsfähiger zu machen. Eine gewisse genetische Drift ist dabei normal. Und gerade für die Zucht sind unsere alten Sorten wichtig: Es können neue Kreuzungen entstehen, die Kartoffelsorte Blauer St. Galler ist ein gutes Beispiel dafür. Den neuen Verfahren, zum Beispiel dem Gentransfer, stehe ich indes sehr skeptisch gegenüber. Ich frage mich immer, ob wir wirklich die Kontrolle darüber behalten, was wir da kreieren.

Das beste Mittel, um eine Pflanze oder ein Nutztier zu erhalten, ist der wirtschaftliche Erfolg damit.
Das wird Pro Specie Rara in Zukunft sicher stärker beschäftigten. Es gibt nicht mehr so viel zu retten, dafür aber vieles zu verwalten. Klar, es gibt Liebhaber, die gewisse Rassen aus Freude bei sich behalten. Aber in der Regel müssen Nutztiere einen ökologischen oder ökonomischen Nutzen bringen. Ein Vorteil ist die Robustheit der alten Rassen, man kann sie oft auf Flächen einsetzen, die für andere Tiere zum Beispiel zu steil sind. Die Wollschweine wiederum sind für ihr Fleisch nicht zuletzt in der Gastronomie sehr beliebt.

Apropos Schweine. Seit einigen Jahren engagieren Sie sich in der Zucht des Schwarzen Alpenschweins. Noch eine alte Rasse?
Nicht ganz. 2013 bekam ich einen Anruf von einem italienischen Veterinär. Er meinte, er habe eine letzte Gruppe der schwarzen Veltliner Schweine gefunden, bei uns nannte man sie übrigens Bündner Schweine. Es waren allerdings nur fünf Tiere, zu wenig für eine erfolgreiche Zucht. Später fanden wir in Chiavenna ein paar Exemplare des ebenfalls nicht mehr existierenden gescheckten Samolaco-Schweins sowie einige Südtiroler Schweine. Unser Schwarzes Alpenschwein ist nun eine Kompositrasse aus diesen drei alten Alpenschweinrassen. Wir haben Züchter in Italien, Österreich und Deutschland. In der Schweiz habe ich eine ganze Liste von Personen, die im Berg­gebiet mit der Zucht beginnen würden. Auch Köche zeigen sich sehr interessiert. Aber bis jetzt konnten wir noch keine Tiere in die Schweiz importieren. In diesem Zusammenhang haben wir das Gütesiegel Heritaste europaweit schützen lassen, für alle alten, extensiv gehaltenen Rassen und deren Produkte. Gestützt darauf bauen wir nun die Vermarktung auf.

Wenn Sie in die Zukunft blicken, sind Sie optimistisch für unsere Biodiversität?
Heute schon. Zwischenzeitlich war das nicht der Fall. Die Industrialisierung der Landwirtschaft überbordete, selbst in Bezug auf den Bioanbau. Zum Glück haben das viele Kreise gemerkt. Die Konsumenten sind sensibilisiert auf das Thema, das hilft uns.

Hans-Peter «Hape» Grünenfelder (70) wuchs in Zürich und Rüschlikon auf. Er studierte Kulturtechnik an der ETH und arbeitete bis 1990 als Verkehrs- sowie Infrastrukturplaner für den Kanton St. Gallen.1982 gründete Grünenfelder nebenamtlich die Stiftung Pro Specie Rara mit dem Ziel, alte Nutztierrassen und Kulturpflanzen zu retten. Nach seinem Rückzug als Geschäftsführer der Stiftung konzentrierte er sich ab 1995 auf den Schutz alter Rassen in Europa. Dafür gründete er in St. Gallen das Büro zur Sicherung der landwirtschaftlichen Artenvielfalt in Europa (SAVE). Dessen erstes Projekt war der Schutz des Turopolje-Schweins in Kroatien. Zur gleichen Zeit erhielt Grünenfelder den Chorafas-Preis der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften, zusammen mit dem isländischen Professor J. Jakobson. Mit der Preissumme von 50 000 Franken gründete Grünenfelder das «Monitoring Institute for Rare Breeds and Seeds in Europe». Heute engagiert er sich unter anderem in der Zucht des Schwarzen Alpenschweins, einer Kompositrasse aus drei Ur-Alpenschweinerassen, sowie in der Zucht des «rückgezüchteten» Tirolerhuhns.


Die alten Rassen Europas
Die Resultate der vereinten Anstrengungen, die seit den Achtzigerjahren für den Schutz und Erhalt der europäischen Nutztierrassen unternommen wurden, sind im Netz in vier Sprachen zusammengefasst. Neben sämtlichen nationalen Organisationen sind in einem Rassenatlas unter anderem auch ein Grossteil der geretteten (und ausgestorbenen) Nutztierrassen Europas beschrieben.
www.agrobiodiversity.net