«Die ersten zehn Jahre von Pro Specie Rara hat es mich fast zerrissen.»
Sie nennen sich Ethnozoograph. Was soll das sein?
Hans-Peter Grünenfelder: Diese Berufsbezeichnung habe ich mir selbst zugelegt, eigentlich existiert sie gar nicht. Es gibt den Ethnozoologen, und im Französischen kennt man die ethnozootechnie. Ich wählte die Ethnozoografie deshalb, weil meine Tätigkeit mit menschenbezogener Zoologie, aber auch mit Geografie zu tun hat. Schliesslich habe ich einen grossen Teil Europas inventarisiert in Bezug auf alte Nutztierrassen.
1982 gründeten Sie Pro Specie Rara im Nebenamt. Was trieb Sie an?
Ich war schon immer tierverrückt. Ich gehörte zu den ersten Mitgliedern des WWF und leitete über mehrere Jahre regionale Gruppen der Organisation. Und ich half mit, das Ostschweizer Ökozentrum in Stein aufzubauen. Dort kams in den Achtzigerjahren zu einem Schlüsselerlebnis.
Erzählen Sie.
Zuerst sah ich zwei Filme des Berliner Zoologen Thomas Schultze-Westrum. Sie handelten davon, wie in Griechenland einheimische Nutztierrassen durch europäische oder amerikanische Hochleistungsrassen ersetzt wurden und zeigten, was das für die Inselwelt bedeutet. Kurze Zeit später diskutierte ich im Ökozentrum mit einem Schweinemäster. Ich fragte ihn, wieso die Fribourgerkühe nicht mehr so ausschauen wie früher, als ich die charakteristischen schwarzen Flecken in der Schule abzeichnen musste. Der Mäster meinte, dass die Fribourgerkühe schleichend ersetzt worden sind, durch Holsteiner. Da realisierte ich: Was in Griechenland passiert, geschieht auch bei uns.
Wie ersetzt man eine Rasse schleichend?
Bei den Fribourgerkühen verwendete man für die Zucht einfach nur noch fremde Stiere. Sind die männlichen Tiere einmal weg, ist die Rasse so gut wie ausgestorben. Aus diesem Grund ist auch das ehemalige Bündner Grauvieh verschwunden.
Sie setzen sich seit 35 Jahren für die Rettung bedrohter Nutztierrassen ein. Wie erfolgreich waren Sie damit bis jetzt?
Ziemlich, erstaunlicherweise. Ich hatte aber auch viel Glück. Die ersten zehn Jahre von Pro Specie Rara hat es mich fast zerrissen. Ich arbeitete ja voll beim Kanton, im Telefonbuch liess ich einen Eintrag machen, dass man mir nur zwischen sieben und acht Uhr abends anrufen soll. Ich bekam Anrufe aus der ganzen Schweiz und arbeitete immer bis zwei Uhr morgens. Diesen Rhythmus habe ich bis heute beibehalten.
Wie findet man bedrohte Nutztierrassen?
Indem man sucht. Ausserhalb der Schweiz kontaktierten wir zuerst immer die Tierärzte und fragten sie, ob es in ihrem Gebiet komisches Vieh gibt, das sie zum Beispiel nie besuchen müssen, weil es nie krank wird. Ich hatte immer ein Bild von der entsprechenden Rasse und fragte herum. So fanden wir zum Beispiel das Walachenschaf im slowakisch-ukrainischen Grenzgebiet oder aber Stiefelgeissen bei einer alten Frau in Quinten. Sie hatte keine Ahnung, dass die Rasse fast ausgestorben war. Kurz darauf verunfallte sie, und ihr Sohn gab uns 72 Stunden Zeit, um die Tiere abzuholen. Glücklicherweise hatte ich das Vorkaufsrecht. Aber das Problem war, Stallplätze für die Geissen zu finden. Seither versuchte ich immer, mindestens zwei Leute mit leeren Ställen, sogenannten Rettungsstationen, in der Hinterhand zu haben, denn bei den wirklich bedrohten Rassen muss es schnell gehen.
Ist Ihnen mal eine Rasse durch die Lappen?
Das Schwyzer Langohrschaf, leider. Da kam ich zu spät. Zwar fand ich noch eine Gruppe der Tiere bei zwei Bauern im Kanton Schwyz. Sie sagten mir auch zu, dass ich die Tiere im Herbst abkaufen könne, wenn Sie von der Alp hinunterkämen.
Aber?
Im Herbst sagte mir der Bauer, die Tiere seien nicht von der Alp heruntergestiegen und vermutlich eingegangen. In Wahrheit hatte er sie wohl bereits verkauft. Es gibt überall Raritätenjäger. Als wir die Stiefelgeissen retteten und das in den Medien publik wurde, boten mir Leute bis zu 3000 Franken für ein schönes Exemplar. Bei den Langohrschafen wussten ausser mir nur noch zwei Personen Bescheid. Über diese muss ein Leck entstanden sein, und so verloren wir das Schaf. Darum erzählte ich später niemandem mehr ein Wort, wenn wir an einer Rasse dran waren.
Ab wann gilt eine Nutztierrasse als bedroht?
Es kommt darauf an. Offiziell gilt eine Rasse mit einem Bestand ab 100 Tieren nicht mehr als akut gefährdet. Wir rechnen lieber mit 200 Tieren. Wichtig ist, dass nicht alle zusammen sind. Die Gruppen müssen möglichst dezentralisiert leben, so dass etwa eine Krankheit nicht den gesamten Bestand auslöschen kann. Und es braucht mindestens zehn nichtverwandte männliche Exemplare.
Im Laufe Ihres Engagements bei Pro Specie Rara gründeten Sie 1993 eine europäische Organisation. Wie wichtig ist die internationale Kooperation?
Bis dahin hatten einige Länder zwar eine Liste mit den heimischen Rassen, aber
niemand wusste, welche Rassen grenzüberschreitend vorkamen. Das Engadiner Schaf zum Beispiel war in der Schweiz fast am Aussterben, in Italien auch, nicht aber in Österreich und Deutschland. Die Rasse hatte in vier Ländern insgesamt fünf verschiedene Namen. Darum beschlossen wir, eine Stelle zu schaffen, die ganz Europa anschaut, auch die Gebiete, in denen bezüglich Artenschutz nichts gemacht wird. Und solche gab es viele.